1505 - Dorina, die Friedensstifterin
ausgesprochen aggressiv. Er war nicht wirklich darauf aus, ihr etwas zu tun. Es hat wahrscheinlich schon gereicht, daß sie keine Angst vor ihm hatte."
„Und wie war das damals mit dem Sluck? Und mit den Tomaten? Mit dem Streit, den wir oben auf dem Hügel hatten?"
„Wir haben uns nicht gestritten!"
„O doch, das haben wir. Und wir tun es sehr oft in der letzten Zeit. Du bist sofort gereizt, wenn Dorina etwas tut, was sie deiner Meinung nach nicht können sollte."
„Jetzt bin ich also mal wieder daran schuld!" schrie Segur Vaccer wütend. „Ich habe genug davon!"
Warna setzte zum Sprechen an. „Genug!" brüllte er.
Er stürmte zur Tür hinaus und rannte davon.
Als er wieder zur Besinnung kam, stand er bereits am Fuß des Hügels. Neben ihm gurgelte das Wasser des Baches um rundgeschliffene Steine. Aus dem Schatten unter dem Gesträuch leuchteten die blutroten Blüten der Chinabas wie lauter kleine Raubtierrachen, und direkt vor seinen Füßen erhob sich Gatours Kima-Strauch - ein bedauernswertes Exemplar mit flachen, verdrehten Zweigen, an deren Ende Büschel von Blättern saßen, oft zwei an einem Stiel, und alle diese Blätter hatten Fehler. Einige besaßen gelbe Ränder und braune Flecken, manche waren durchlöchert oder zerschlitzt, und die, die von der Form her noch einigermaßen normal waren, hatten die falsche Farbe - ein blasses, kränkliches Grün. Nur in der Mitte, an den obersten Spitzen der beiden Haupttriebe, zeigten sich gesunde, junge Blätter.
Gatour war zwölf Jahre alt. Sein Lebensstrauch hätte längst damit beginnen müssen, sich zu einem Baum zu entwickeln. Und dabei fehlte es diesem Strauch ganz gewiß nicht an Wasser und Nahrung.
Segur Vaccer wandte sich hastig ab, denn der Anblick dieser kranken Pflanze tat ihm weh.
Trotzdem - ihm kam plötzlich der Gedanke, daß Dorinas Frage nach der Versorgung ihres Strauches durchaus berechtigt war, und er verdammte seinen Einfall, den Lebensstrauch seiner Tochter ausgerechnet auf diesen steinigen Hügel zu setzen.
In dem Topf hätte er ihn lassen sollen, wie es die Linguiden in den großen Städten taten. Einen Topf konnte man im Haus behalten. Man konnte ihn vor dem Wetter schützen und ihn vor jeder Gefahr bewahren.
Aber dieser Gedanke kam um fast vier Jahre zu spät, denn war der Partner erst einmal geboren, dann konnte man seinen Lebensstrauch nicht mehr verpflanzen. Außerdem war Segur stets der Meinung gewesen, daß ein Kima-Strauch in die freie Natur gehörte.
Segur wandte sich dem Hügel zu. Er atmete auf, als er Dorina und den Strauch sehen konnte.
Beide waren offensichtlich wohlauf.
Dorina hob den Kopf, als sie ihren Vater kommen hörte. „Es ist noch nicht Abend", stellte sie fest.
Segur blieb erschrocken stehen, denn die Stimme seiner Tochter klang beinahe feindselig. „Ich wollte nur nach dir sehen", sagte er lahm. „Es könnte doch sein, daß du etwas brauchst. Es ist sehr heiß heute. Bist du nicht durstig?"
Dorina bedachte ihn mit einem so seltsamen Blick, daß er am liebsten auf der Stelle umgekehrt wäre.
Er riß sich zusammen.
Ich werde mich doch nicht vor meiner eigenen Tochter fürchten! dachte er wütend.
Dorina sprang plötzlich auf, und unwillkürlich zuckte er zusammen. Im nächsten Augenblick hörte er ihr fröhliches Lachen. Sie griff nach seiner Hand und zog so heftig an ihm, daß er gezwungen war, sich umzudrehen. „Fang mich ein, wenn du kannst!" rief sie laut und rannte den Hügel hinab.
Seine trüben Gedanken verflogen. Er lief ihr nach und bekam sie zu fassen, bevor sie in dem dichten Gebüsch am Bach verschwinden konnte. Sie wirkte völlig unbeschwert. Er ließ sie auf seinen Schultern reiten und trug sie im Triumph nach Hause. „Es war nur ein Spiel", sagte er am späten Abend zu seiner Frau. „Sie ist eben ein Kind, und Kinder tun manchmal die seltsamsten Dinge. Wir sollten in Zukunft alles vermeiden, was sie erneut auf solche Ideen bringen könnte."
Warna antwortete nicht. Sie saß wieder an ihrem Terminal und drehte ihm den Rücken zu. „Was ist los?" fragte er beunruhigt.
Sie hob den Pflanzenkatalog hoch, mit dem sie sich gerade beschäftigt hatte. Darunter lag ein ehemals versiegeltes Schreiben. „Was ist das?" fragte er erschrocken. „Woher kommt das?"
Warna reichte ihm schweigend den Brief.
Im ersten Moment begriff er gar nicht, was da stand, aber dann war es, als stürze eine siedendheiße Welle über ihm zusammen. ... bitten wir euch, Dorina innerhalb von zehn Tagen unter
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