1505 - Dorina, die Friedensstifterin
der oben angegebenen Adresse vorzustellen ...
Es war eine regelrechte Vorladung, und auch die höflichen Worte konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß man in diesem Fall keine Ausweichmanöver dulden würde.
Sekundenlang war er stumm vor Entsetzen. Dann kam die Wut. „Jetzt hast du es also doch geschafft!" zischte er. „Schon seit ihrer Geburt hast du es darauf abgesehen!
Verdammt noch mal, Warna, warum? Ist dir denn nicht klar, daß sie sowieso viel zu früh aus dem Haus gehen wird? Willst du sie unbedingt jetzt schon loswerden?"
„Ich habe nichts damit zu tun", versicherte Warna tonlos. „Oh, natürlich nicht!" höhnte Segur. „Sie schicken so etwas jedem ins Haus, nicht wahr?"
„Nein."
„Nun, dann verrate mir mal, wie sie auf uns gekommen sind!"
„Durch Gatour."
Die kochendheiße Welle der Wut war weg. Er schnappte nach Luft wie ein umgedrehter Autra. „Gatour?" fragte er erschrocken. „Was hat das mit dem zu tun?"
Aber dabei ahnte er bereits, was kommen würde. „Ich habe dir doch gesagt, daß er sie angegriffen hat", erwiderte Warna. „Und sie hat ihn beruhigt. Das war vor zwei oder drei Wochen. Ich habe dir damals nichts davon erzählt - ich wollte nicht, daß du dich wieder aufregst."
„Und?"
„Seine Anfälle blieben aus", sagte Warna. „Seine Eltern brachten ihn zum Arzt, und dort erwähnten sie den Zwischenfall mit Dorina."
Ab und zu hatte Segur einen Alptraum: Er ging die Treppe hinunter, und die Treppe verwandelte sich in eine Rutsche, die geradewegs zwischen die messerscharfen Greifer der Strohpresse führte. So ungefähr fühlte er sich jetzt.
Der Strauch.
Gatours Kima-Strauch.
Der frische, gesunde Austrieb an den beiden Hauptzweigen.
Er hätte es wissen müssen. „Sie können ihr nicht die Schuld daran geben", sagte er schließlich. „Was ist das überhaupt für ein Arzt? Er behandelt Gatour schon seit Jahren. Warum ist er nicht einfach froh darüber, daß er endlich einen Erfolg verbuchen kann?"
„Das bringt uns auch nicht weiter", murmelte Warna bedrückt. „Es ist passiert. Wir können es nicht mehr ändern."
„Ja, und du bist natürlich froh darüber! Du hast das ja immer gewollt. Warum feiern wir also nicht ein großes Fest und laden Gatour und seine Familie als Ehrengäste ein?"
„Ich will nicht, daß sie fortgeht!"
Er war so verwirrt, daß er auf der Stelle verstummte. „Ich will es nicht!" wiederholte Warna Vaccer verstört. Sie drehte sich um und starrte Segur an. „Und ich will auch nicht, daß sie Talent hat!"
„Aber du hast doch immer ..."
„Das ist mir egal!" schrie sie so laut, daß er unwillkürlich vor ihr zurückzuckte. Sie sah es und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Es ist mir gleichgültig, was ich gesagt und getan habe!" fuhr sie in einem seltsamen, gepreßten Tonfall fort. „Wenn ich es könnte, dann würde ich das alles rückgängig machen."
„Aber warum?" fragte er ratlos. „Weil ich jetzt erst begriffen habe, was es bedeutet", stieß Warna hervor. „Du hast das natürlich schon von Anfang an gewußt. Und dir war auch klar, daß sie das Talent hat. Gerade darum hast du dich so erbittert gegen diesen Gedanken gewehrt."
Lange Zeit standen sie sich schweigend gegenüber. „Wer weiß, wozu es gut ist", murmelte Segur schließlich, aber dabei fühlte er sich, als hätte er Dorina bereits verloren.
Sie nutzten die ihnen gegebene Frist bis zum letzten Tag aus. Am Abend vor der Fahrt in die Stadt, als Dorina mit dem Sluck beschäftigt war, stiegen Segur und Warna auf den Hügel.
Dorinas Kima-Strauch sah auf den ersten Blick völlig normal aus. Aber als sie genauer hinsahen, entdeckten sie die winzigen Ansätze von Blutenknospen
6.
Hajmayur, 323. Lektion: Der Meister fragte: „Was ist Sprache?"
Die Schülerin antwortete: „Sprache ist das Instrument, mit dessen Hilfe wir die Wirklichkeit beschreiben, ordnen und begreifen."
Der Meister fragte: „Wie können wir Sprache beschreiben?"
Die Schülerin antwortete: „Sprache besteht aus Begriffen. Jeder Begriff hat seine Entsprechung in der Wirklichkeit oder im Reich der Ideen. Wir können nichts begreifen, ohne es vorher in Begriffe zu fassen.
Wir können aber andererseits auch Begriffe für das Unwirkliche erfinden und uns auf diese Weise aktiv eine Wirklichkeit schaffen, die gar nicht existiert."
*
Gurmayon Sie saßen im Wartezimmer des Schlichters auf einer kalten, harten Bank und starrten auf die Tür, hinter der ihre Tochter verschwunden
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