1505 - Dorina, die Friedensstifterin
war. Ein schwarzäugiges Linguiden-Kind hockte ihnen gegenüber mit untergeschlagenen Beinen auf einer anderen Bank, und die Eltern, die neben dem Kind saßen, sprachen unentwegt auf ihren Sprößling ein. „Vergiß nicht, ihm zu sagen, daß du schon mehrere Sätze in der Sprache der Blues verstehen kannst!"
„Gib keine frechen Antworten!"
„Rede nur, wenn du gefragt wirst!"
„Sage deinen Reim auf, den wir dir beigebracht haben!"
Das Kind war älter als Dorina. Es fixierte Warna Vaccer und wackelte mit den Ohren. Den Worten seiner Eltern schenkte es nicht die geringste Beachtung.
Obwohl Segur und Warna Angst vor dem Urteil des Schlichters hatten, weckte das Verhalten des fremden Kindes und seinen Eltern in ihnen einen gewissen Stolz auf ihre Tochter.
Mehrere Sätze in der Sprache der Blues.
Dorina beherrschte diese Sprache fast perfekt, und bessere Manieren hatte sie auch.
Die Tür öffnete sich. Das schwarzäugige Linguiden-Kind sprang von der Bank und huschte nach nebenan. „Du bist noch nicht an der Reihe", sagte eine tiefe, klangvolle Stimme. „Warte, bis du gerufen wirst! Die Eltern des Kindes Dorina sollen hereinkommen."
Segur stand auf. Er sah, daß Warna zögerte, nahm ihre Hand und zog sie hoch. „Komm!" sagte er leise. „Jetzt läßt sich sowieso nichts mehr ändern. Bringen wir es also hinter uns."
Der Schlichter war um die zwanzig Jahre alt und machte einen ruhigen, zuverlässigen Eindruck.
Er hatte braunes Haar und kluge, braune Augen, die von nach vorn gebürsteten Augenbrauen beschattet waren. Seine Gesichtsbehaarung war kurz geschoren.
Er winkte Dorinas Eltern zu sich heran. Warna und Segur sahen sich vergeblich nach ihrer Tochter um. „Dorina ist nebenan", erklärte der Schlichter. „Ich habe ihr ein paar Aufgaben gestellt - ich weiß schon jetzt, daß sie sie lösen wird. Nehmt Platz."
Sie folgten seiner Aufforderung. „Ihr wißt natürlich, daß eure Tochter ungewöhnlich begabt ist", sagte der Schlichter. „Ich will euch auch gar nicht danach fragen, warum ihr sie nicht schon viel früher zu uns gebracht habt, denn ich kann mir die Gründe vorstellen. Ich möchte vorerst nur wissen, seit wann Dorina bereits von ihrem Talent praktischen Gebrauch gemacht hat."
„Woher sollen wir das wissen?" fragte Segur unbehaglich. „Und wie sollen wir das beurteilen?"
Der Schlichter lächelte. „Erzählt mir einfach, was euch im Zusammenleben mit Dorina aufgefallen ist", sagte er sanft. „Ich bin sicher, daß euch dazu vieles einfallen wird."
Es war merkwürdig: Segur Vaccer hatte sich immer ein wenig vor seiner ersten Begegnung mit einem Schlichter gefürchtet, aber jetzt fühlte er sich plötzlich wohl und geborgen. Seine Besorgnis, die unterschwellige Angst, daß man ihn beeinflussen könnte, daß er möglicherweise nach einem solchen Gespräch gar nicht mehr er selbst sein würde, all das war von einem Augenblick zum anderen verschwunden.
Warna Vaccer empfand offenbar ähnlich. Zum erstenmal seit langem wirkte sie wieder so, wie Segur sie von früher her in Erinnerung hatte: Warmherzig, aufgeschlossen, voller Humor. Segur begriff erst jetzt, daß auch sie die ganze Zeit hindurch unter ständigem, fast unerträglichem Druck gestanden hatte.
Es war eine Wohltat, endlich offen und ohne Angst über Dorina sprechen zu können. Keine Streitereien mehr, kein gegenseitiges Abgrenzen, kein ängstliches Verteidigen von Positionen, die nicht aufgrund von Wissen, sondern nur aus ungesicherten Überzeugungen heraus entstanden waren. Vor allem aber keine Vorwürfe. Sie sprachen ungeniert und ruhig sowohl miteinander, als auch zu dem Schlichter.
Und der war ein ausgezeichneter Zuhörer.
Als sie von all den kleinen Merkwürdigkeiten, den seltsamen Vorfällen und erschreckenden Momenten berichtet hatten, war es, als hätten sie sich eine zentnerschwere Last von der Seele geredet. Und dabei wußte keiner von ihnen, woher eigentlich ihr plötzliches Vertrauen kam. Es war einfach da, und es wuchs mit jedem Wort, das der Schlichter sagte.
Diese Worte aber konnte man zählen. Der Schlichter sprach selten. Er stellte nicht mehr als vier oder fünf Zwischenfragen, und auch die waren sehr kurz. „Es hat offenbar schon mit den Pflanzen angefangen", sagte der Schlichter schließlich. Die Vaccers nahmen es gelassen. „Das bedeutet, das ihr Talent sich schon seit damals frei und wild entwickeln konnte.
Es wird allerhöchste Zeit, daß sie in eine Schule kommt."
„Wir würden sie lieber bei uns
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