1506 - Eine Welt der Linguiden
habe kein Recht, mich da einzumischen."
Rhodan nahm es zur Kenntnis. „Kommen wir auf die Sprache zurück", sagte er. „Die Blues erzählen sich wahre Wunderdinge über euch, und eigentlich hatte ich erwartet, daß ihr uns mit ein paar hingeworfenen Bemerkungen um den Finger wickeln würdet. Aber bis jetzt habe ich nichts davon gemerkt. Könnte es sein, daß die Blues ein bißchen übertreiben?"
„Erwartest du, daß ich dir jetzt irgendein verbales Kunststück vorspiele?"
„Nein. Ich wüßte nur gerne, was ihr tut und wie ihr es macht."
„Es ist an und für sich nichts Besonderes", behauptete Dorina Vaccer. „Unser größter Vorteil besteht wahrscheinlich darin, daß wir keine Vorurteile kennen. Für uns haben alle Lebensformen grundsätzlich die gleichen Rechte. Daher sind wir imstande, in jedem Fall neutral zu bleiben und niemals Partei zu ergreifen."
„Unparteiisch? Aber ihr müßt euch doch eine Meinung darüber bilden, was Recht und Unrecht ist!"
„Das ist nicht unsere Sache. Recht und Unrecht sind keine feststehenden Werte, sondern reine Ansichtssache.
Aus der Sicht der Maus ist die Katze ein Mörder. Für die Katze stellt sich das ganz anders dar."
„Könnte ein Friedensstifter zwischen der Katze und der Maus vermitteln?"
Dorina Vaccer schüttelte den Kopf und lachte.
Rhodan bemerkte fasziniert, daß ihre Haltung und ihre Gestik jetzt vollkommen menschlich wirkten. Vorhin, als sie mit Salaam Siin gesprochen hatte, war das ganz anders gewesen, sehr fremdartig.
Sie schien sich jedem Gesprächspartner anpassen zu können, ohne dabei ihr eigentliches Wesen zu verleugnen oder gar zu verlieren. Dasselbe war ihm auch bei Balasar Imkord und den beiden Schülern aufgefallen.
War das die Erklärung für die Erfolge der Linguiden? „Ich kann mich zwar mit Tieren verständigen", sagte sie, „aber die Sache mit der Katze und der Maus wäre hoffnungslos. Die Katze müßte verhungern, um den Interessen der Maus gerecht zu werden. Ein so großes Opfer kann man selbst von einem noch so einsichtigen Wesen nicht verlangen."
„Die Katze könnte eine andere Beute finden."
„Glaubst du wirklich, daß das eine Lösung wäre?"
Er wußte, daß sie damit recht hatte. Was ihn überraschte, das war die Selbstverständlichkeit, mit der sie zugab, daß sie keine definitive Antwort geben konnte. Er hätte eigentlich erwartet, daß sie mit Vehemenz für die Rechte der Maus eintreten würde.
*
Der große Pavillon war noch erleuchtet. Wie lautlose Schatten huschten junge Linguiden dort umher und räumten auf - Schüler, die sich vermutlich vergebens den Kopf darüber zerbrachen, was all die Aufregung zu bedeuten hatte.
Oder waren sie längst informiert? Das ließ sich nicht ausschließen. Merkwürdig, wie diese Wesen mit der Wahrheit umgingen!
Einerseits schienen sie in jeder Beziehung offen und ehrlich zu sein. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß sie überhaupt wußten, was Hinterlist, Betrug und Täuschung waren. Aber andererseits brachten sie es doch tatsächlich fertig, die grausige Gefahr, die ihnen von jedem harmlosen Transmitter drohte, auf ein simples Tabu zu reduzieren und dessen Hintergründe so gründlich zu verschweigen und zu verdrängen, daß die meisten von ihnen gar nicht mehr wußten, worauf das Tabu zurückzuführen war.
Rhodan fand, daß es ihm tatsächlich schwerfiel, die Linguiden zu durchschauen. Sie waren und blieben ihm fremd, und er fragte sich, ob sich das jemals ändern würde.
Man müßte sich Zeit für sie nehmen können, dachte er.
Dann hätte er vielleicht auch Gelegenheit gehabt, sich mit ihrer seltsamen Philosophie zu beschäftigen, mit diesen unterschiedlichen Realitäten, von denen Dorina Vaccer gesprochen hatte.
Aber Zeit war das, womit sie jetzt sparsam umzugehen hatten.
Sie waren nicht in dem Simban-Sektor gekommen, um die Lebensgewohnheiten und Fähigkeiten der Linguiden zu erforschen, sondern um dem Verbleib der beiden Mutanten und Aktivatorträger nachzuspüren.
Dieses Rätsel war gelöst, wenn auch auf eine Weise, die keinem von ihnen gefiel. Eigentlich hätten sie sich bereits auf dem Rückflug befinden müssen.
Rhodan bemerkte eine Bewegung auf dem Pfad, der zwischen blühenden Sträuchern zum Pavillon führte. „Wer ist da?" rief er leise.
Lange Zeit blieb es still. Nichts rührte sich. Wahrscheinlich war es einer dieser jungen Linguiden, die drüben Ordnung schaffen sollten.
Aber dann erhob sich neben einem der Büsche eine hochgewachsene
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