1508 - Der Templerjunge
überhaupt einen Körper besaß.
Und es gab noch etwas, über das er sich ebenfalls wunderte. Er hörte jetzt die Stimme des Ankömmlings. Er konnte mit ihm sprechen, nur waren seine Worte schwer zu verstehen, denn zumeist flüsterte oder zischelte er nur. So wie jetzt.
»Ich bin wieder da, mein Sohn. Ja, ich habe dich nicht vergessen, aber ich möchte dir sagen, dass du mich enttäuscht hast.«
Enttäuscht!
Es war ein Wort, das Imre nicht hatte hören wollen. Seinen Vater zu enttäuschen bedeutete auch bei ihm das Hochsteigen einer gewissen Angst, die er in den Griff bekommen musste, um nicht in Panik zu verfallen.
»Warum habe ich dich enttäuscht?«
»Durch deine Gabe. Sie hast du durch mich mit auf den Weg bekommen, das musst du wissen.«
»Ja, ich weiß.«
»Und du solltest sie richtig einsetzen, aber das hast du nicht getan. Du hast die Menschen gewarnt, und das ist nicht gut. Du hättest sie in ihr Verderben fahren lassen sollen. Der Terror hat London erreicht, aber du allein kannst ihn nicht stoppen. Es werden immer wieder Unglücke geschehen, mein Junge.«
»Ja, das weiß ich. Aber ich würde mich wie ein Schwein fühlen, wenn ich nicht versuchen würde, sie zu verhindern. Ich habe doch die Gabe, und die will ich für die Menschen einsetzen.«
»Nein, das möchte ich nicht. Du bist geboren worden, um Angst und Grauen über die Menschen zu bringen. Du hättest die Menschen warnen müssen, aber zu einem Zeitpunkt, an dem es bereits zu spät gewesen wäre. Dann wären sie dir hörig geworden. Dass es umgekehrt gelaufen ist und du deine Kenntnisse für sie eingesetzt hast, kann mir nicht gefallen.«
»Ich bin auch ein Mensch. Ja, ich zähle mich dazu. Ich bin das, als was ich mich im Spiegel sehe. Da kannst du sagen, was du willst.«
»Du willst nicht auf meiner Seite stehen?«
»Doch, aber du musst dich ändern. Du kannst die Menschen nicht so einfach auf der Strecke lassen. Ich bin für meine Kräfte dankbar und möchte sie in den Dienst der Menschheit stellen.«
»Das kann ich nicht akzeptieren.«
Imre schaute auch weiterhin nach vorn. Sein Vater oder wer immer ihn da besucht haben mochte, reagierte jetzt, denn es blieb nicht nur bei den Worten. Es war jetzt auch zu sehen, dass er seinen Kopf bewegte, denn das gelbe Augenpaar huschte von einer Seite zur anderen und hinterließ dadurch Streifen in der Luft.
»Niemals, Imre! Niemals werde ich dich loslassen und damit die Schuld daran tragen, dass du dich auf die andere Seite stellst. Nein, das mache ich nicht mit. Ich warne dich ein letztes Mal. Aus Freunden können sehr leicht Feinde werden. Und aus Feinden dann Todfeinde.«
»Ich kann nicht anders.«
»Überlege es dir gut, mein Sohn!«
Ich bin nicht dein Sohn! Ich will nicht dein Sohn sein!, gellte es in dem Jungen auf wie ein Schrei. Er hütete sich jedoch davor, seine Antwort laut zu geben, denn er fürchtete sich davor, zu weit zu gehen. Er konnte sich vorstellen, dass jemand wie sein Vater keine Gnade kannte - auch nicht mit seinem Sohn.
Eine laute Antwort gab er der Gestalt nicht. Dort bewegten sich wieder die Augen, und der Junge stellte fest, dass sein Besucher ihm zunickte, und das war so etwas wie ein Abschiedsgruß.
Der Besucher zog sich zurück. Er glitt nach hinten oder auch in die Höhe. So genau war das nicht zu erkennen. Aber er verschwand aus dem Wohnwagen, und diese Tatsache ließ den Jungen aufatmen.
Imre sagte nichts. Aber der Vulkan, der in ihm tobte, war nicht zu stoppen. Er merkte es an seinem Kreislauf. Das Blut rann schneller durch seine Adern, und er wusste auch, dass er einen roten Kopf bekommen hatte.
Es war das Gefühl, einfach nur hilflos zu sein, das ihn überfallen hatte.
Aber er wollte es nicht. Er konnte einfach nicht zusehen, wie Menschen in ihr Unglück liefen. Er war ein Prophet. Er sah viele Dinge voraus, und er konnte die Menschen deshalb nicht in ihr Verderben laufen lassen. So etwas war unmöglich, denn es gab nicht nur einen Vater, sondern auch eine Mutter, deren Gene er ebenfalls geerbt hatte.
Im Wagen war es bis auf die unregelmäßigen Atemzüge seiner Mutter still. Sie hatte wahrscheinlich nichts bemerkt, aber in ihrem Innern breitete sich eine gewisse Unruhe aus, und der Junge war sicher, dass sie bald aus ihrem Schlaf erwachen würde, auch wenn der Morgen noch nicht angebrochen war.
Imre sagte nichts. Er bemühte sich, seine Ruhe zu finden. Wenn seine Mutter erwachte, würde sie nach ihm fragen. Das kannte er, denn das war schon immer
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