1508 - Der Templerjunge
Rand des Schreibtisches.
Warten ist nicht meine Sache, an diesem Morgen allerdings war dies kein Problem für mich, denn in dieser Sitzhaltung konnte ich wunderbar die Augen schließen und in mich gehen. Auch wenn die Entspannung nur fünf oder zehn Minuten andauerte, sie tat mir gut, und ich schreckte hoch, als ich Glendas Stimme hörte.
»Wir haben Besuch.«
»Schon hier?«, fragte Suko.
»Nein, ich hole den Jungen jetzt.« Glenda schaute mich an und schüttelte den Kopf. »Schlaf nur nicht wieder ein. Was soll unser Besucher nur von so einem Polizisten halten?«
»Nur das Beste.«
»Okay, das sehe ich.«
Glenda Perkins zog sich zurück. Sie trug an diesem Tag eine cremefarbene Tuchhose und darüber eine lange Bluse, die sie durch einen Gürtel in der Taille zusammenhielt.
Während Glenda weg war, steigerte sich bei uns die Spannung. Selbst Suko zwang sich zur Ruhe. Die Zeit wurde lang, irgendwie drückte auch die Stille auf unser Gemüt.
Wenig später öffnete sich die Tür zu Glendas Büro. Unsere Assistentin und ein Junge traten ein. Glenda hielt ihn sicherheitshalber an der Hand.
Sie fühlte sich für ihn verantwortlich.
Sekunden später waren sie bei uns im Büro, und der Junge schaute sich aus großen Augen um. Er reagierte so wie jedes andere Kind, und so sagten wir erst mal nichts.
Dann richtete er seinen Blick auf mich. »Sie sind bestimmt John Sinclair, über den ich was gelesen habe.«
»Ja, das bin ich.«
»Das ist toll.«
Seine Stimme hatte bei der letzten Bemerkung einen anderen Klang angenommen.
Es war zu hören gewesen, dass er sich wirklich über unser Treffen freute.
Ich stellte auch Suko vor, und Glenda hatte für Saft gesorgt und stellte ihm ein großes Glas hin.
Von der Beschreibung her und vom ersten Eindruck ausgehend würde ich behaupten, dass er ein netter Junge war. Braune Haare, sehr dicht gewachsen, in der Mitte gescheitelt, ein offenes Gesicht und braune Augen, deren Blick auf keinen Fall verschlagen war.
Ich sagte: »Da du uns kennst, würden wir auch gern deinen Namen erfahren.«
Er lächelte spitzbübisch. »Klar, den wisst ihr ja noch nicht. Ich heiße Imre Kovec.«
Damit konnte niemand von uns etwas anfangen, doch ich sagte: »Ein seltener Name in dieser Stadt.«
»Das ist ungarisch. Man kann mich auch Emmerich nennen. Es kommt auf das Gleiche hinaus.«
»Ah ja, der Name ist mir schon bekannter. Gut.« Ich nickte ihm zu und wies auf einen Stuhl. »Dann setz dich mal.«
»Danke.«
Suko kam auf seine Kleidung zu sprechen, die ihm, ebenso wie mir, aufgefallen war. Mein Freund empfand sie schon als ein wenig ungewöhnlich für einen Jungen in seinem Alter.
Imre schaute an sich hinab. Wenig später erfuhren wir, dass es sich um seine Berufskleidung handelte, und wir hörten auch, in welch einem Beruf er tätig war, zusammen mit seiner Mutter.
Beide zogen über die Jahrmärkte. Sie gehörten zu den Zigeunern, wie der Junge selbst sagte, und seine Mutter las den Menschen ihr Schicksal aus der Hand, wobei er ihr half.
Danach kam er auf die vergangene Nacht zu sprechen, und er war froh, dass alles so gut geklappt hatte.
»Und du hast es vorausgesehen?«, fragte ich.
»So ist es.«
»Und du hast uns gewarnt.«
»Das musste ich doch tun.«
Ich bedankte mich noch mal und wollte dann wissen, wie der Junge an seine Fähigkeiten gelangt war. Natürlich kam er dabei auf seine Eltern zu sprechen. Wir erfuhren von einer normalen Mutter, aber auch von einem Vater, der nicht normal war und den er nicht einmal selbst einordnen konnte.
Er traf aber eine Feststellung und gab dies mit harter Stimme kund: »Ich habe Angst vor ihm!«
»Kennst du ihn denn?«, wollte Glenda wissen.
»Ja.«
»Und weiter?«
»Er hat wohl keinen Namen, aber er erscheint mir in der Nacht, und er ist davon überzeugt, dass meine anderen Kräfte von ihm stammen und er sie an mich vererbt hat.«
Bisher hatte er recht langsam gesprochen, was sich nun änderte.
Wir hörten, wie schlimm er die letzte Begegnung mit seinem Vater empfunden hatte. Er gab uns eine Beschreibung, und er gab uns auch zu verstehen, dass sein Vater ihn auf seine Seite ziehen wollte.
»Er ist böse, sehr böse.«
»Sieht das deine Mutter auch so?«, erkundigte ich mich.
»Inzwischen schon.«
»Vorher nicht?«
»Nein. Da ist sie von meinem Vater fasziniert gewesen, das hat sie mir selbst gesagt. Aber jetzt weiß sie, dass er ihr nur ein Kind machen wollte. Meine Mutter zog mich groß, und der Vater hat sich nie mehr
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