1524 - Schreckens-Zoo
war die Beute weg!
Till Mitchum stand auf dem Fleck, als wäre er dort festgenagelt worden.
Sein Blick war starr, der Mund stand halb offen. Er hörte seinen keuchenden Atem und schaute weiterhin auf den Baum, auf dem sich der übergroße Vogel wie ein Schattenriss abmalte.
Er war dabei, seine Nahrung endgültig zu schlucken. Das sah Mitchum an den Bewegungen der Kehle. Der Vogel saß auch nicht mehr so ruhig auf seinem Ast. Er hüpfte jetzt, um eine für ihn noch bequemere Position zu suchen.
Dabei drehte er sich auch. Nicht ganz um seine Achse. Die Hälfte reichte ihm. Damit hatte er sein Ziel erreicht, und seine großen starren Augen richteten sich auf einen bestimmten Punkt, als wäre er dabei, ein neue Opfer anzuvisieren.
Till Mitchum wollte es zunächst nicht glauben. Sekunden später musste er jedoch einsehen, dass es Realität war, denn das Ziel des Riesenvogels war keine Schlange mehr, sondern er, ein Mensch!
Es war eine lächerliche Sache, von einem Vogel angestarrt zu werden.
Normalerweise - aber Mitchum sah ein, dass hier nichts mehr normal war.
Mit einem derartigen Blick schaut ein Jäger sein Opfer an!, schoss es dem Tierpfleger durch den Kopf. Der war so kalt und grausam und zugleich hungrig.
Aber das bildete er sich wahrscheinlich nur ein, weil er das Verschlucken der Schlange nicht vergessen hatte.
»Verdammt, was ist das?«, flüsterte er und schüttelte sich. »Der wird doch nicht mich meinen…«
Der Vogel tat nichts. Er sah aus wie ausgestopft, als er auf seinem Ast hockte und nur noch den Menschen fixierte. Der Schnabel stand halb offen. Starre Augen, die eigentlich keinen besonderen Blick haben konnten, aber sich jetzt auf den Mann ausgerichtet hatten. Till sah darin so etwas wie eine Botschaft, und auf seinem Rücken breitete sich eine Gänsehaut aus.
Was wollte der Vogel?
Er krächzte nicht, aber er plusterte sich in den folgenden Sekunden auf und sein Körper wirkte dabei noch größer. Die Augen verloren ihren Glanz nicht, und dann durchlief seinen Körper ein Ruck.
Bei einem Menschen wäre das so etwas wie ein Startsignal gewesen, und das traf auch bei diesem Riesenvogel zu.
Er stieß sich ab.
Für einen Moment sah es so aus, als würde er auf dem Boden landen, aber etwa zwei Meter darüber breitete er seine riesigen Schwingen aus und kannte jetzt nur noch ein Ziel. Es war Till Mitchum!
***
Die Sommernacht, der weiche Wind, das Rauschen des Meeres tief unten, die nach Salz schmeckende Luft, all das waren Dinge, die Carlotta, das Vogelmädchen, so liebte.
Sie war ein Wunderwerk der Gentechnik, denn ihr gelang etwas, was für den normalen Menschen immer ein Traum geblieben war.
Carlotta konnte fliegen. Sie war ein junges Mädchen mit Flügeln, sie war ein Phänomen, das es wohl nur einmal auf der Welt gab.
Und vor dieser Welt musste Carlotta versteckt werden. Dass dies auch geschah, dafür sorgte Dr. Maxine Wells, die Tierärztin, die Carlotta unter ihre Fittiche genommen hatte und immer besorgt war, wenn ihr Schützling allein flog. Ändern konnte sie es nicht, denn Carlotta brauchte Bewegung, und so hatten sich beide auf die Dunkelheit geeinigt, damit das Vogelmädchen dort seine Runden drehen konnte und nicht so schnell entdeckt wurde.
Es gab auch einen Sommer in Schottland, und es gab Tage, in denen kein Regen fiel. Tage, die sogar sehr warm waren, und Nächte, in denen es nicht viel kühler wurde.
Eine solche Nacht hatte sich Carlotta ausgesucht, und sie genoss ihren Flug. Der Wind wehte ihr blondes Haar in die Höhe, er streichelte das Gesicht, wobei er ihr die Freudenschreie praktisch von den Lippen riss.
Carlotta konnte nicht anders, sie musste ihren Gefühlen einfach freien Lauf lassen. Immer dann, wenn sie so frei fliegen konnte, war sie am glücklichsten.
Natürlich wusste sie, dass sich Maxine Sorgen machte, wenn sie zu lange wegblieb, aber Sommernächte wie diese gab es nicht sehr oft. Die musste man einfach ausnutzen.
Dass ihr Leben und auch das der Tierärztin nicht ohne Gefahren verlief, das wusste Carlotta auch. Dabei ging es nicht nur darum, dass man sie entdecken konnte, es kam noch etwas anderes ins Spiel, an das ihre Ersatzmutter Maxine früher nie gedacht hatte.
Es hatten sich ihnen Welten eröffnet, es war etwas geschehen, über das man nur den Kopf schütteln konnte. Nicht fragen, nicht erklären, nur hinnehmen. Beide hatten erleben müssen, dass es jenseits der sichtbaren Welt Dinge gab, die in das Reich der Fantasie und des Horrors hätten
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