1540 - Das Drachenriff
getan, denn in diesem Augenblick hörte sie die Rufe eines Menschen.
Purdy Prentiss zuckte zusammen. Sie wusste sofort, dass es nicht der Schrei eines Wasservogels gewesen war, denn so hörte sich nur ein Mensch an, der Hilfe wollte.
Sie musste zurückschauen, sah den Turm und bekam mit, dass sich der Schrei wiederholte. Diesmal noch lauter, als hätten jetzt sogar zwei Personen geschrien.
Egal, was sie vorgehabt hatte, jetzit war für sie wichtiger, erst einmal zu helfen. Da befand sich jemand in Not, und dem konnte sie sich nicht guten Gewissens verweigern.
Trotzdem blieb sie vorsichtig und rannte nicht wie eine Wilde auf den Turm zu.
Vor dem Eingang blieb sie sogar noch stehen, klopfte gegen die Tür und rief: »Hallo?«
Es wurde ihr geantwortet. Diesmal nicht durch einen Schrei, dafür in einer Sprache, die sie nicht verstand, doch der Klang hatte sich angehört, als wäre jemand in großer Not.
Purdy zerrte die Tür so weit auf, dass sie in den Turm hineingehen konnte. Das Licht begleitete sie, und es drang so weit hinein, dass es die beiden Menschen erfasste.
Ein Mann und eine Frau, die gefesselt auf dem harten Boden lagen und Purdy aus großen Augen anschauten…
***
Es war plötzlich still geworden, sehr still. Nur blieb die Stille nicht lange bestehen, denn Tanner unterbrach sie durch einen schweren Atemzug, dem ein Fluch folgte.
Der riss auch mich aus meiner Starre.
Ich drehte mich dem Freund zu.
Tanner hatte seinen Platz an der Wand nicht verlassen. Er sah so aus, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Auf seinem nie sehr gebräunten Gesicht zeigten sich hektische rote Flecken. Sein Hut war verrutscht und noch weiter in die Stirn gekippt. Erst als er ihn richtete, da wusste ich, dass wir uns wieder normal unterhalten konnten.
»Hör zu, John, habe ich das geträumt?«
»Bestimmt nicht.«
»Dann hat es den Killer wirklich gegeben?«
»Ja.«
Tanner schüttelte den Kopf.
»Dass ich auf meine alten Tage so etwas noch erleben muss, verdammt noch mal, damit hätte ich niemals gerechnet.« Er deutete auf den Fluchtpunkt. »Ein Spiegel, der keiner ist und trotzdem als solcher bezeichnet wird. Ein Ausgang und zugleich ein Eingang. Das will mir nicht in den Kopf!«
»So ist das manchmal.«
»Hör auf, John. Ich denke soeben daran, welch ein Glück ich gehabt habe. Dann muss ich dich noch fragen, ob du ihn auch getroffen hast.«
»Habe ich.«
Tanner verzog sein Gesicht. »Dann ist er also mit der Silberkugel in der Brust verschwunden.«
»Ja, und ich denke, dass er auch nicht mehr zurückkehren wird.«
»Rechnest du damit, dass er tot ist?«
Ich nickte.
»Dann wird er wahrscheinlich auf der anderen Seite des Spiegels sterben, nehme ich an.«
»Davon gehe ich auch aus.«
Der Chiefinspektor hatte sich noch immer nicht richtig gefangen. Er schüttelte den Kopf, stöhnte auf und ballte beide Hände zu Fäusten.
»Einen Mörder müssen wir also nicht mehr suchen, John, doch ich denke nicht, dass du dich damit zufrieden geben willst.«
»So ist es.«
Tanner löste sich von der Wand.
»Und was hast du vor? Hast du bereits einen Plan?«
Ich lächelte. »Zumindest einen Vorsatz.« Ich wies auf den Spiegel. »Ich denke, was die anderen können, das schaffe ich auch. Ich muss auf die andere Seite.«
»Das habe ich mir gedacht. Aber ohne mich, John. Mir reicht diese Welt hier aus.«
»Kein Problem. Außerdem müssen wir Purdy Prentiss zurückholen. Ich glaube, dass ich sie an der anderen Seite finden werde, wo immer sich diese auch befindet.«
»Und womit rechnest du, was dich dort erwartet?«
»Keine Ahnung.«
»Noch weitere Killer?«
»Rechnen muss man mit allem. Aber ich habe eine Waffe, die ich einsetzen kann. Im Gegensatz zu Purdy Prentiss. Ich kann nicht voraussagen, was mit ihr passiert ist. An etwas Positives wage ich kaum zu denken. Ich weiß auch nicht, was hinter dem Spiegel liegt. Welche Welt, zum Beispiel.«
»Aber wir haben den Killer gesehen.« Tanner ging bei diesen Worten auf und ab. »Wir haben ihn gesehen«, wiederholte er, »und mir ist etwas aufgefallen.«
»Sprich es aus.«
»Die Kleidung, John. Das Oberteil aus Fell. Das deutet nicht eben darauf hin, dass er aus einer warmen Gegend stammt. Ich gehe eher davon aus, dass er aus einer kalten oder kälteren Region den Weg zu uns gefunden hat.« Tanner deutete auf die Decke. »Im Norden, schätze ich. Aber der Typ stammte nicht aus unserer Zeit. So läuft heute keiner mehr herum. Soll ich dir ehrlich sagen, was ich
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