1540 - Das Drachenriff
denke?«
»Bitte.«
»Ich glaube, dass diese Gestalt aus einer anderen Zeit stammt, die schon lange zurückliegt. Mir ist sogar der Gedanke an einen Wikinger durch den Kopf geschossen. Verrückt, nicht?«
»Nicht unbedingt.«
»He, dann denkst du auch so?«
»Zumindest in diese Richtung.«
»Gut, John, dann kann es ja weitergehen. Du bist derjenige, der den Beweis erbringen muss. Ich halte mich dabei zurück. Oder sollen wir Suko Bescheid geben?«
»Vielleicht später.«
»Ich bleibe auf jeden Fall hier und werde nur meine Dienststelle anrufen, dass sie auf mich verzichten müssen. Über den Mörder verliere ich kein Wort. Man würde es mir sowieso nicht glauben.«
»Hast du denn eine Waffe, Tanner?«
»Ja. Im Büro.«
»Da gehört sie auch hin.«
Er hatte den Sarkasmus in meiner Stimme verstanden.
»Hör auf, John Sinclair. Ich habe einen anderen Job als du. Wann brauche ich schon mal eine Pistole?«
»Das sehe ich ein.«
Tanner stellte sich vor den Spiegel. Allerdings in einem gebührenden Abstand.
»Dann mach dich mal auf den Weg, Geisterjäger. Ich halte hier die Stellung.«
»Okay.«
Ich benötigte nur wenige Schritte, um den Spiegel zu erreichen. Ich dachte daran, wie einfach es doch war, und merkte zugleich, dass ein ungutes Gefühl in mir aufkeimte.
Das Kommen und Gehen durch ein transzendentales Tor, war hier offensichtlich kein Problem. Gedanken, woher der Spiegel stammte, machte ich mir nicht. Ich wollte ihn nur als Brückenschlag benutzen.
In Reichweite des Spiegels hielt ich an. Ich kontrollierte ihn. Er sah blank aus, aber bei genauem Hinsehen stimmte das nicht mehr. Da wirkte er leicht verschwommen, als befände sich auf seiner Oberfläche eine graue Schicht.
Nein, das war kein normaler Spiegel. Das war einer, wie ich ihn in meiner langen Laufbahn schon öfter erlebt hatte und deshalb auch seine Funktionen kannte.
Es gab Spiegelflächen, die waren weich, aber es gab auch welche, die zwar zu sehen, die aber trotzdem nicht vorhanden waren und durch die man hindurchschreiten konnte.
Ich streckte die rechte Hand vor. Zum ersten Mal berührte ich den Spiegel und war gespannt auf seine Reaktion. Zwei Menschen waren darin verschwunden, und ich ging davon aus, dass ich die dritte Person sein würde.
Nein, das passierte nicht.
Der Spiegel gab nicht nach.
Ich drückte fester.
Auch jetzt hatte ich keinen Erfolg, und ich merkte, dass mir das Blut in den Kopf schoss. Selbst mein Herz fing schneller an zu schlagen. In meiner Kehle spürte ich eine gewisse Trockenheit, und ich musste erkennen, dass man mich ausgesperrt hatte!
Verdammt auch!
Tanner merkte, dass etwas passierte oder auch nicht passierte. Er wunderte sich und kam in meine Nähe. Seitlich von mir blieb er stehen.
Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt, und er schüttelte den Kopf, als er fragte: »Ist was?«
»Ja, ich schaffe es nicht.«
Der Chief inspektor schaute erst mich an, dann den Spiegel.
»Ist der Weg verschlossen?«
»Ich denke schon.«
Nach der Antwort bewegte ich meine Handfläche über den Spiegel hinweg. Es wiederholte sich das, was ich schon mal erlebt hatte. Das verdammte Ding reagierte nicht. Ich sah mich selbst im Spiegel, aber ich nahm auch seine andere Existenz wahr, diese nicht mehr so glatte, sondern eher aufgeraute Oberfläche.
Trotzdem gab ich nicht auf und versuchte es an anderen Stellen auf der Fläche. Auch dort erzielte ich den gleichen Misserfolg, und so gab es nur ein Fazit: Der Spiegel wollte mich nicht. Er lehnte mich ab und damit auch die Welt, die hinter ihm lag.
Ich war geschockt, verärgert und frustriert. Das war mir noch nie bei diesen magischen Gegenständen passiert, und Tanner stellte genau die richtige Frage.
»Was jetzt?«
Ich hob die Schultern und erwiderte: »Sorry, ich weiß es nicht…«
***
Purdy Prentiss sagte kein Wort. Sie musste das Bild erst mal verdauen und holte tief Atem. Sie hatte sich vieles vorstellen können, doch mit einem derartigen Bild hatte sie nicht gerechnet, und in dieser Situation fehlten ihr einfach die Worte.
Nur gut, dass die einfließende Helligkeit ausreichte, so konnte sie die beiden Menschen gut erkennen. Und sie machten nicht den Eindruck, dass sie aus einer anderen Zeit stammten, denn da hatte man noch keine grauen Jeans getragen und einen grünen Pulli, wie es bei der Frau der Fall war. Ihre Haare zeigten einen leicht rötlichen Schimmer, und in ihrem Gesicht malte sich der Ausdruck der Furcht ab, der auch nicht verschwand, als sie
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