1540 - Das Drachenriff
sicherlich auch diesen Franco Sylvester umgebracht hatte. Dessen Leiche hatte ich nicht gesehen, Tanner hatte mir nur die Verletzungen beschrieben.
Ich konnte mir leicht vorstellen, dass dieses verdammte Schwert die Mordwaffe war.
Noch war er unsicher und wusste nicht, an wen er sich zuerst wenden sollte. Ich wollte auf keinen Fall, dass er sich mit Tanner beschäftigte, und rief ihn deshalb an.
»He!«
Nach diesem Ruf zuckte er zusammen. Er grinste böse, in seinem Kopf funkelten die klaren Augen. Er trug nur dieses Fell und Stiefel an den Füßen, und mir kam er wie ein Nordmann vor. Vielleicht ein Wikinger, aber ohne den berühmten Helm. Dafür wuchsen zottelige und gelbliche Haare auf seinem Kopf.
»He!«
Ich hatte den Ruf wiederholt und zugleich meine Beretta gezogen.
Es reichte aus, um ihn zu einem Angriff zu verleiten, und es gab für ihn nur eine Alternative.
Er wollte mit seinem blutigen Schwert meinen Körper in zwei Hälften teilen.
Dabei schrie er und riss seinen Mund so weit auf, dass die Hälfte des Gesichts nur aus Maul zu bestehen schien. Er hob die Arme an, führte die Klinge über seinen Kopf. Den Griff umklammerte er mit beiden Händen, um auch genügend Schwung einsetzen zu können.
Ich feuerte ihm eine Kugel entgegen.
Danebenschießen konnte ich nicht. Der Krieger bot einfach ein zu breites Ziel, und tatsächlich schlug das Geschoss mitten in seine Brust.
Es stoppte ihn nicht.
Der Krieger rannte weiter, er schrie dabei seine Kampfeslust noch immer hinaus, und ich rettete mich mit einem Hechtsprung zur Seite, sonst hätte er mich getroffen, denn er schlug aus vollem Lauf zu.
Die Klinge raste nach unten, er rannte weiter und konnte nicht mehr stoppen. Dabei schlug er genau in dem Augenblick zu, als sich der Spiegel dicht vor ihm befand.
Er traf ihn und stürzte selbst zugleich in die Fläche hinein.
Wieder war kein Splittern zu hören. Keine einzige Scherbe flog aus dem Verbund. Der Spiegel schluckte ihn und gab ihn nicht wieder her…
***
Purdy Prentiss stand vor der Tür und war nicht mehr in der Lage, ihren Mund zu schließen. Auch ihre Augen waren weit offen, und ihr Atmen hörte sich keuchend an.
Es war ein Phänomen, das sie erlebt hatte. Das konnte einfach nicht stimmen, das war nicht zu glauben, und sie verlor allmählich ihre Starre und schüttelte den Kopf.
Sie dachte nicht über eine Erklärung nach, denn eine Frau, die schon mal in Atlantis gelebt hatte und auch die Folgen ihrer ersten Existenz zu spüren bekommen hatte, die musste sich damit abfinden, dass es bestimmte Phänomene gab, die man hinnehmen und einfach akzeptieren musste.
Es gab auf dieser kleinen Insel einen Ort, an dem die normalen Gesetze aufgehoben waren. Ein unsichtbares transzendentales Tor war vorhanden, das allerdings aus zwei Ein- oder Ausgängen bestand, denn in London war es der Spiegel.
Es war nicht leicht für Purdy Prentiss, ihre Ruhe wiederzufinden. Sie dachte dabei, weniger an sich, sondern mehr an die andere Seite des Tors, die sich in London und dort in einem Zimmer befand.
Aber sie gewann dem Erscheinen des Mörders auch etwas Positives ab.
Sie wusste jetzt, dass es auf der Insel auch einen Ausgang gab, der sie aus dieser Zeit und von diesem Ort wieder wegbringen konnte.
Dass sie in der Vergangenheit gelandet war, stand für sie fest.
Die Staatsanwältin überlegte, wie sie sich verhalten sollte. Da gab es auf der einen Seite die Fluchtmöglichkeit, auf der anderen interessierte sie auch der Turm. Der Krieger hatte sich dort versteckt gehalten, und sie ging davon aus, dass er nicht der Einzige gewesen war. Möglicherweise befand sich dort ein Lager.
Waffenlos in den Turm zu gehen traute sie sich nicht. Sie brauchte Unterstützung und hatte natürlich vor, den gleichen Weg zu nehmen, wie es der Krieger getan hatte. Sie musste nur genau die Stelle finden, wo er verschwunden war, dann würde sie so schnell wie möglich John Sinclair Bescheid geben.
Sie hoffte nur, dass der Krieger auf der anderen Seite des Weges keinen zweiten Mord begangen hatte.
Purdy Prentiss machte sich auf den Weg. Sie gehörte zu den Menschen, die sich wehren konnten. Ihr damaliger Partner hatte ihr vieles beigebracht. Zudem hatte sie in ihrer atlantischen Zeit immer wieder kämpfen müssen und sich auch lange Zeit durchschlagen können, bis der Tod eines Tages schneller gewesen war.
Es tobte schon ein ungewöhnliches Gefühl der Spannung in ihr, als sie auf das Ufer zuging.
An das Geräusch des Wassers
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