155 - Briana - Tochter Irlands - Langan, Ruth
hast gesagt, ein bisschen Wein tut niemandem weh. Aber die zwei da drinnen haben schon eine ganze Karaffe geleert. Wohin soll das nur führen?“
„Ja, ja, ich weiß“, versetzte Vinson unwirsch, „ich habe ja schließlich Augen im Kopf. Ich glaube, uns bleibt nichts weiter übrig, als uns vor der Tür herumzudrücken und zu lauschen.“
„Wie bitte? Wozu soll denn das gut sein?“
„Wann auch immer es dort drinnen auffallend still wird, müssen wir uns einen Grund einfallen lassen, um hineinzugehen.“
„Ich wusste es, ich wusste es“, murmelte Mistress Malloy laut vor sich hin und stapfte davon. „Ich wusste, dass wir die Kontrolle über dieses Spiel verlieren würden.“ Sie wischte sich die vor Aufregung feuchten Hände an der Schürze ab.
Vinson folgte ihr etwas langsamer. Er überlegte bereits, wie viele plausible Gründe ihm wohl einfallen würden, um seinen Herrn bei seinem Treiben zu unterbrechen. Dabei war dem Butler noch nicht ganz klar, was sich Lord Alcott eigentlich als Unterhaltung für diesen Abend ausgedacht hatte.
„Ah, ist das nicht ein wunderbarer Abend?“ Keane O’Mara setzte sich neben Briana auf das kleine zweisitzige Sofa und streckte die langen Beine behaglich aus.
„Ja, Eure Einladung war eine sehr schöne Überraschung. Ich hatte erwartet, allein in meinem Gemach zu Abend zu essen und dann früh zu Bett zu gehen.“
„Vinson hat mir erzählt, dass Ihr um die Mittagszeit herum viel Zeit in der Küche mit den Dienstboten verbringt?“
Briana nickte. „Ihr habt ganz wunderbares Personal. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Cora die Großnichte von Mistress Malloy ist.“
„Das wusste ich auch nicht. Aber überraschend ist diese Neuigkeit auch wieder nicht für mich. Hier in Carrick House sind die meisten Bediensteten irgendwie miteinander verwandt, und zwar entweder blutsverwandt oder durch Heirat in die Familie gekommen. Sie alle dienen den O’Maras schon seit Generationen.“
„Die Köchin erzählte mir, dass sie eine Schwester in einem Dorf nahe Ballinarin habe, die am Ende des Sommers ein Baby erwartet. Und ich habe Eurer Köchin versprochen, die Decke mitzunehmen und bei der Schwester mit lieben Grüßen von hier abzugeben.“ Nach kurzem Nachdenken fügte Briana hinzu: „Wenn ich doch nur endlich nach Hause zurück könnte!“
„Das würdet Ihr für meine Köchin tun?“
„Ja, selbstverständlich. Warum auch nicht?“
Das flackernde Kaminfeuer warf eigentümliche Schatten auf ihr Gesicht, und Keane beobachtete sie fasziniert. „Ihr seid eine höchst ungewöhnliche junge Frau, Briana O’Neil!“
„Ach was“, wehrte sie unbehaglich ab. „Was bringt Euch zu einer solchen Meinung?“
„Ich habe noch nie eine Dame von edler Herkunft getroffen, die sich unter das Dienstpersonal mischt.“
„Edle Herkunft!“ Briana stieß einen sehr deutlichen Laut zum Zeichen ihres Unmuts aus.
„Nun“, fuhr Keane fort, „Ihr müsst aber doch zugeben, dass die O’Neils eine sehr reiche Familie sind.“
„Ja, aber damit habe ich absolut nichts zu tun. Die Mutter Oberin hat immer gesagt, dass wir alle nur Zufälle des Schicksals sind, was unsere Herkunft angeht. Wir können weder unseren Geburtsort beeinflussen noch die Art und Weise, in der wir aufwachsen und erzogen werden. Das Einzige, was wir frei wählen können, ist die Entscheidung darüber, wie wir unser Leben gestalten wollen, wenn wir selbst darüber bestimmen können.“
„Und Ihr habt demnach beschlossen, ein Leben ohne Einschränkungen und Grenzen zu führen?“, wollte Keane wissen.
Briana dachte sorgfältig nach, bevor sie Antwort gab. „Wenn Ihr die Einschränkungen, die Reichtum oder Armut mit sich bringen, meint, dann lautet meine Antwort Ja. Nicht die Geldstücke in der Tasche eines Mannes entscheiden darüber, ob er ein Held oder ein Schurke ist, sondern einzig und allein das, was er in seinem Herzen und seiner Seele hat.“
Keane lehnte sich etwas näher zu ihr hinüber und sah ihr eindringlich ins Gesicht. „Und wofür haltet Ihr mich? Für einen Helden oder einen Schurken?“
„Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen. Ihr wisst selbst am besten, was Ihr in Eurem Herzen tragt. Ich glaube allerdings, dass Ihr Euch selbst ein äußerst harter Richter seid, Keane O’Mara.“
Gedankenvoll trank er von seinem Wein. Diese junge Frau neben ihm war viel mehr als nur außergewöhnlich. Sie verfügte über die besondere Gabe, sich in andere Menschen hineinzudenken und daraus die richtigen
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