155 - Kriminalfall Kaprun
werden im Pulk der vielen Flüchtenden einfach nach oben mitgerissen. Die Wiener Studenten laufen noch 30 Meter weit, bis sie von den Rauch- und Giftgasen eingeholt und getötet werden. Auch ein Teil der japanischen Skigruppe schafft es noch aus dem Zug auf die Nottreppe und hastetnach oben. Der 14-jährige Tomohisa Saze aus Fukushima schafft es am weitesten weg vom Zug, 142 Meter weit. Dann stirbt auch er.
Die Überlebenden erreichen den Tunnelausgang. Alle sind verletzt, teilweise schwer, einerseits durch Rauchgasvergiftung, andererseits durch das Fallen aus dem Zug oder die Stürze auf der Flucht. Sie sind atemlos und erschöpft. Glücksgefühle kommen nicht auf.
»Wo bleiben die anderen?«, fragt ein Mann. Ihm geht es besonders schlecht. Er atmet schwer, glaubt, einen Herzinfarkt zu haben.
»Wir müssen zurück in den Tunnel«, sagt eine Frau und fast alle stimmen ihr im Schock zu. »Da sind immer noch Leute drinnen!« Sie weiß, dass ihr Bruder und ihre Nichte noch dort oben sind.
Ein letztes Mal keimt Hoffnung auf, als Wasser aus dem Tunnel rinnt, viel Wasser. »Hey«, sagt ein Mann, »sie haben das Feuer unter Kontrolle gebracht.«
Sie sprechen sich gegenseitig Mut zu. »Das wird schon.«
»Na schau, alles wird gut.«
Doch das Wasser stammt nicht von Löschversuchen oder einer Sprinkleranlage, sondern von geplatzten Wasserleitungen, die im Tunnel verlegt sind und der Hitze nicht mehr standgehalten haben.
Als die ersten Retter, ein Vorauskommando der Freiwilligen Feuerwehr Kaprun, beim Tunneleingang eintreffen, schlägt ihnen blankes Unverständnis entgegen.
»Ihr braucht uns nicht verarzten«, schreit einer, »holt lieber die anderen raus!«
»Machen wir schon«, sagt einer der Feuerwehrmänner, »aber wir müssen uns auch um euch kümmern, dass hier niemand abstürzt.«
»Kommen Sie! Wir müssen rein, die anderen holen!«
»Langsam, langsam«, antwortet der Feuerwehrmann und packt seinen Erste-Hilfe-Rucksack aus, »sie bluten ja.«
Unwillig lassen sich die zwölf Überlebenden notdürftig verarzten. Sie können nicht verstehen, dass sich die Hilfskräfte um sie kümmern, anstatt die anderen Menschen im Tunnel zu retten. Sie wissen nicht, dass es nichts mehr zu retten gibt.
Kapitel 8
Um 9:12 Uhr heulen die Sirenen in Kaprun auf. Die Mitarbeiter der Freiwilligen Feuerwehr werden alarmiert. In den umliegenden Ortschaften des Pinzgaus folgen noch viele weitere Sirenen. Es beginnt der größte Rettungseinsatz in der Geschichte der Zweiten Republik. Am Ende werden 400 Feuerwehrmänner, 100 Notärzte und Sanitäter, dazu zahlreiche Gendarmen und Bergretter im Kapruner Tal sein. 25 Hubschrauber, auch aus dem benachbarten Bayern, fliegen an den Katastrophenort.
Der erste Hilfstrupp am Unglücksort ist das Vorauskommando der Freiwilligen Feuerwehr. Auf dem Weg nach oben zum Tunnelportal stockt den Feuerwehrleuten der Atem. Zuerst hören sie ein leises Zischen aus dem Tunnelportal, das immer lauter wird und schließlich zum Getöse anschwillt. Sie drücken sich an das Brückengeländer, als sie sehen, dass das tonnenschwere Gegenseil des Zuges in Schlingen nach unten rauscht. Es muss durch den Brand abgeschmolzen sein, denken sie. Was kommt da noch alles runter?
In der Talstation bricht Panik aus. Auf der Zustiegsrampe und vor den Drehkreuzen stehen immer noch hunderte Skifahrer, die auf den nächsten Zug warten. Sie haben nicht mitbekommen, was im Berg, etwas mehr als einen Kilometer oberhalb von ihnen, passiert ist. Sie wundern sich nur, warum die Bahn nicht kommt. Als sie das herunterstürzende, tonnenschwere Seil hören und gleich darauf auch sehen, drängen die Menschen aus dem Gefahrenbereich, Skier und Snowboards fallen von der Brücke.
Einer schreit: »Der Zug kommt runter!«
Chaos entsteht. »Keine Panik, nur eine Zugseilentgleisung«, ruft ein Bahnbediensteter in der Talstation den Menschen zu. Doch da ist es schon zu spät. Einige werden auf der Flucht aus der Talstation verletzt. Der Bühnensprecher neben der Talstation versucht zu beruhigen. »Keine Panik, Leute. Ihr könnt ja auch hier Spaß haben, bis alles wieder funktioniert.«
Die dicke, schwarze Rauchwolke, die mittlerweile aus der Bergstation dringt, ist von hier aus nicht zu sehen. Mit dem Fernglas wären vielleicht jene zwölf geschundenen Menschen erkennbar, die gerade als kleine Punkte aus dem Tunnelportal herauskommen. Es ist das einzige von der Talstation aus sichtbare Zeichen der dramatischen Ereignisse. Viele Skifahrer
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