155 - Kriminalfall Kaprun
geschockt, ebenso die wenigen anderen Kollegen, die sie an diesem Samstag im Landesgericht trifft.
Unruhig geht sie wieder in ihr Büro. Sie denkt zurück, wie sie mit ihrer Familie vor einigen Jahren die Gletscherbahn bestiegen hat und Angst ergreift sie. Sie erinnert sich an eine Ausweichstelle im dunklen Tunnel, wo beide Bahnen aneinander vorbeifahren. Hier wird es sicherlich auch Not- oder Schutzräume für die Fahrgäste geben, denkt sie und macht sich damit selber Mut. Bei Straßen und Autobahnen sind die gesetzlichen Anforderungen an die Tunnelsicherheit seit dem Inferno im Tauerntunnel und im Mont-Blanc-Tunnel massiv gestiegen. Überall wird der Brandschutz erhöht, geht es der Staatsanwältin durch den Kopf. Für eine Gletscherbahn im Tunnel, mit der täglich tausende von Skisportlern zum beliebten Kitzsteinhorn fahren, dürften mindestens die gleichen Sicherheitsbestimmungen gelten. Doch ihre innere Unruhe verstärkt sich, je mehr sie sich an die damalige Fahrt mit der Gletscherbahn erinnert.
Sie sitzt am Schreibtisch, rechts neben sich Akten, die sie bereits durchgearbeitet hat, während der unerledigte linke Stapel immer noch höher ist. Den nächsten Akt schlägt sie zwar noch auf, doch es fällt ihr zunehmend schwer, sich von ihren Gedanken an den Brand in Kaprun zu lösen und auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
Kapitel 11
Es ist kurz nach zehn Uhr vormittags. Karin Stieldorf liegt auf der Couch und liest die Wochenendzeitung, als das Telefon läutet. Die Mutter eines Schulkollegen ist dran. Dass sie sehr beunruhigt ist, merkt Frau Stieldorf sofort.
»Hast du Radio gehört? Es brennt in Kaprun, in der Gletscherbahn, das war gerade in den Nachrichten.«
»Was?«
»Im Skizug befinden sich bis zu 180 Skifahrer, sagen sie, und ich kann den Franzi nicht erreichen.«
»Oh Gott«, sagt Karin Stieldorf, »ich ruf sofort den Matti an.« Hastig wählt sie die Nummer. Ihr Herz schlägt jetzt so stark, dass sie kaum ruhig stehen kann. Sie atmet laut und schnell. »Kommschon, komm schon«, sagt sie leise, aber es kommt keine Verbindung zustande. »The number you called cannot be reached now.«
In ihr verkrampft sich alles, ein Schauer durchfährt sie. Ihr wird schwindlig. Als Nächstes ruft sie ihren Mann Johannes an, der gerade bei einer Weinverkostung in der Südsteiermark ist. Auch er ist wie paralysiert. »Was ist da nur los?«, fragt er keuchend, »ich fahr sofort zu dir!«
Johannes Stieldorf lässt alles liegen und stehen, fährt ins Hotel und hat keine fünf Minuten später seine Sachen gepackt. In Wien wählt seine Frau unterdessen immer und immer wieder die gleiche Nummer, die von Matthäus.
»The number you called cannot be reached now.«
Sie ruft beim Polizeiposten in Kaprun an, vielleicht wissen die ja etwas. Das Handynetz ist im Tal zusammengebrochen, erklärt ein Gendarm, sie brauche sich jetzt einmal keine Sorgen zu machen. Doch Karin Stieldorf steckt schon in einem Teufelskreis aus Verzweiflung und Hoffnung fest. Ihre Gedanken rasen. »Sind sie in dem Zug? Warum erreichen wir sie nicht? Hoffentlich sitzen sie gesund und munter auf dem Gletscher! Oder vielleicht haben sie einfach verschlafen? Aber warum um Gottes Willen erreicht niemand wenigstens einen der Fünf?« Sie ruft wieder ihren Mann an, der mittlerweile schon auf der Südautobahn Richtung Wien rast. »Johannes, wenn es in dem Tunnel brennt, und sie sind drinnen im Zug, dann haben sie keine Chance.«
In der Zwischenzeit treffen die ersten besorgten Angehörigen in Kaprun ein. Seit zehn Uhr läuft die Nachricht von der Katastrophe über die Agenturen, erreicht vor allem via Radio jeden Haushalt.
»Brand in Kapruner Gletscherbahn. Skifahrer eingeschlossen«, heißt es in den ersten Meldungen.
»180 Skifahrer eingeschlossen«, verlautbart wenig später eine Horrormeldung.
Rasend schnell verbreitet sich die Nachricht. Glücklich dürfen sich all jene schätzen, die ihre Lieben gleich telefonisch erreichen.Für die vielen anderen Mütter, Väter und anderen Angehörigen beginnt die Hölle auf Erden. Es sind viele Kinder und Jugendliche im Zug. Das Snowboard-Opening hat vor allem die Jugend nach Kaprun gelockt.
Aus ganz Österreich und Bayern machen sich verzweifelte Menschen auf den Weg. Sie wissen nur, dass der Zug gebrannt hat. Sie wissen, dass ihr Kind in der Gegend ist. Und dass sie es telefonisch nicht erreichen. Sie versammeln sich in der Jugendherberge von Kaprun, wo sie vor der schnell eintreffenden Medienmeute abgeschirmt
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