155 - Reiseziel: Mars
Sitten.
Man gehe ausgesucht höflich miteinander um in der Marsgesellschaft, hatte Maya Joy ihm erklärt. Eine hochgestellte Persönlichkeit wie zum Beispiel die Ratspräsidentin oder auch Maya selbst würden mit »Dame« angesprochen, normalsterbliche Frauen mit »Frau«. Männer einfach nur mit Namen, es sei denn, sie waren sehr alt oder hatten einen exponierten Rang inne. Das war jedoch nicht die Regel, denn auf dem Mars hatten Frauen das Sagen und besetzten den Großteil der Schlüsselpositionen.
Das ging noch auf die Zeit der ersten Siedlergenerationen zurück, als es das naturgegebene Vorrecht der Frauen gewesen war, eine zum Überleben ausreichende Population zu schaffen.
Damals waren auch die fünf Häuser mit den weiblichen Oberhäuptern entstanden, die dank umfangreichen Geburtslisten Inzucht vermieden hatten. Heute, nach über fünfhundert Jahren, existierte zumindest dieses Risiko nicht mehr.
Auch vor dem vertraulichen »Du« in Verbindung mit Vornamen sollte er sich hüten, hatte Maya Joy ihm eingeschärft. Das war angeblich nur innerhalb der Familien gebräuchlich. Aus den englischen Worten für they und your hatten die Marsianer ein Kunstwort entwickelt, das dem französischen Vous und dem deutschen Sie entsprach.
Beim Waldvolk herrschten wiederum ganz andere Sitten, doch die, so Maya, seien für Matt uninteressant, denn diese Leute würde er sowieso kaum zu Gesicht bekommen.
Die Konturen der Queen Victoria verschwammen mit dem Marsmond Phobos, und der Marsmond Phobos verschwand bald hinter dem Horizont des roten Planeten. Der Trabant war relativ schnell unterwegs und umkreiste den Mars mehrmals innerhalb eines Tag-Nacht-Zyklus.
Drax hatte den Nachbarplaneten der Erde immer für relativ uninteressant gehalten. Viel weniger aufregend jedenfalls als etwa die Venus. Nun würde er auf ihm landen und dort unten Abkömmlingen der menschlichen Rasse begegnen.
Unglaublich! Sein Herz klopfte wie das eines Kadetten beim Abschlussexamen an der Militärakademie.
»Commander Drax?«
Der Mann aus der Vergangenheit drehte sich um. »So förmlich?« Unten am Treppenaufgang stand Maya Joy Tsuyoshi. Der Sozialkundeunterricht bei ihr war aus drei Gründen interessant gewesen: Die Kommandantin der PHOBOS war ein wunderbarer Mensch, eine äußerst fähige Offizierin und eine attraktive Frau.
Sie zuckte mit den Schultern. »Das Protokoll holt uns langsam ein, da sind Vertraulichkeiten unzweckmäßig. Wir landen in dreiundsiebzig Minuten auf dem Raumhafen von Elysium. Bitte kommen Sie in den Passagierraum hinunter und schnallen sich an.«
»Okay.« Drax wandte sich der Treppe zu. Die Kommandantin runzelte die Stirn. Die alte Redewendung schien auf dem Mars außer Gebrauch geraten zu sein. »Das heißt: ›In Ordnung, ich komme schon.‹« Mayas Gesichtszüge entspannten sich, sie eilte zurück in die Zentrale.
Matthew Drax warf noch einen letzten Blick auf sein Reiseziel. Unausweichlich stand er vor ihm, der rote Planet, so groß inzwischen, dass die Horizonte schon außerhalb seines Blickfeldes lagen. Dafür glaubte er eine der fünf Städte, von denen Maya Joy erzählt hatte, in dem grünen Areal zu erkennen. Elysium? Bradbury? Oder das im Bruderkrieg mit den Waldleuten zerstörte Vegas? Die anderen Städtenamen fielen ihm nicht mehr ein.
Dort unten regelten die fünf Häuser die Regierungsgeschäfte: die Tsuyoshis, die Braxtons, die Angelis’, die Saintdemars und die Gonzales’. Fünf Sippen herrschten über etwa zweieinhalb Millionen Menschen; die heutige Population des Mars.
Matt stieg die Treppe hinunter. Maya Joy war längst wieder im Cockpit verschwunden.
Im Passagierraum saßen die Besatzungsmitglieder, etwa ein Dutzend. Ihre Blicke begleiteten den Mann von der Erde, während er durch den Gang schritt. Matt setzte sich neben Palun Saintdemar, den Bordarzt. »Alles klar?«, fragte der dünne, hoch gewachsene Mann, der eine metallicblaue Strähne in seinem Schwarzhaar trug.
»Fast alles.« Matt Drax schnallte sich an, sank in seinen Sessel, schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Es gelang ihm nur für wenige Minuten, dann musste wieder an Aruula denken.
Aruula, Aruula, Aruula…
Ihr Name füllte sein Hirn aus, ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihre Stimme. Wie mochte es ihr gehen; ihr und den anderen, die seinen Weg sechs Jahre lang begleitet hatten: den Freunden, den Gefährten, den Feinden…? Welche von ihnen lebten noch?
Und wenn – wie lange konnte man überleben auf einem Planeten,
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