156 - Die Rache der Schattenfrau
Isoldes Zimmer. Die Frauen Knipperdollincks hatten es nicht gewagt, die Tür zu sprengen. Ich legte den Säugling in die vorbereitete Wiege. Dann kehrte ich zurück ins Gewölbe, um den Leichnam Isoldes zu holen.
Ich traute meinen Augen nicht. Isolde sah im Tod wieder so aus wie vor der Geburt. Die Haut war weiß und glatt. Ein Lächeln war auf ihren Zügen, als hätte sie sich mit Gott versöhnt.
Ihr Nachthemd war rein und ohne die schwarzen Flecke, die die Geburt verursacht hatte. Es gab keine Wunde in ihrem Leib. Der Dolch und der kleine Sarg waren verschwunden.
Angst erfüllte mich. Ich wußte nun, daß Isolde die Wahrheit gesagt hatte. Das hier war das Werk des Satans, der mich täuschte, damit seiner Brut kein Unheil geschah.
Ich nahm die federleichte Isolde auf die Arme und trug sie in ihr Zimmer hinauf. Dort legte ich sie auf das breite Bett und verschloß die Rückwand des Schrankes, damit niemand den geheimen Gang entdeckte.
Wie die Wellen einer Meeresbrandung drang der Lärm der kämpfenden Männer am Ludgeritor ins Haus. Ich vernahm das Klirren von Degen und Lanzen, das Schreien verwundeter Männer und das Krachen von Hakenbüchsen und Feldschlangen.
Dann klopfte jemand an die Tür.
„Im Namen des Herrn!" rief eine dunkle Stimme. „Öffnet, Witwe Wandscherer!"
Ich atmete auf, denn ich hatte die Stimme erkannt. Es war der Prädikant Bernhard Rothmann. Wenn ich auch vielen anderen Männern in Münster, die sich gottesfürchtig nannten, nicht traute, so war für mich Bernhard Rothmann ein Mann, der von einem tiefen Glauben erfüllt war.
Ich warf noch einen Blick auf den Säugling in der Wiege.
Er hatte die himmelblauen Augen offen. Sie glitzerten seltsam. Das kleine, schöne Gesichtchen schien zu lächeln. Ich dachte noch, daß das Kind sich fürchten müßte vor Bernhard Rothmann, wenn es ein Geschöpf des Satans war, dann klopfte es abermals heftig, und ich ging zur Tür, um den Riegel zurückzuschieben.
Bernhard Rothmann betrat den Raum und ging auf die Wiege zu. Das Kind streckte ihm die Ärmchen entgegen, und er hob es heraus.
Die Frauen Knipperdollincks, voran die abtrünnige Nonne Gesine, traten ans Wochenbett Isoldes. Genugtuung war in ihren Gesichtern, als sie sahen, daß Isolde tot war.
Gesine Knipperdollinck wandte mir ihr hochmütiges Gesicht zu.
„Du hättest ruhig eher öffnen können, Elisabeth Wandschwerer", sagte sie spitz. „Wir hätten dir geholfen, das Kind zu baden."
Ich wandte den Kopf dem Prädikanten Bernhard Rothmann zu, der den Säugling in den Armen hielt. Erst jetzt fiel mir auf, daß das Kind keinerlei Spuren der Geburt aufwies. Ich hatte es nicht gewaschen.
Die Gewißheit, daß Isolde die Wahrheit gesagt hatte, durchzuckte mich wie ein Blitzschlag. Im selben Moment sah ich das stumme Einvernehmen Bernhard Rothmanns mit dem kleinen Wesen der Hölle, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.
Mit hängenden Schultern verließ ich den Raum. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß mich die bösen Augen des Säuglings verfolgten.
Draußen auf der Straße begriff ich erst, daß der Tag fast vorüber war. Ich mußte Stunden unten im Gewölbe verbracht haben.
Der Kampflärm war verstummt. Dafür hallte das Triumphgeschrei von Männern und Frauen an meine Ohren. Freudestrahlende Gesichter waren um mich herum auf der Ludgeristraße. Man klopfte sich gegenseitig auf die Schultern, und wie von selbst begann sich eine Prozession zu bilden. Die Menschen der Stadt pilgerten zu den Wehrgängen, um Freudenkränze zu flechten und Gott für die große Gnade und den Beweis zu danken, daß sie die einzig wahren Gläubigen waren.
Ich entzog mich dem Getümmel und den Freudentänzen. Man ließ mich in Ruhe, denn man wußte, daß ich erst vor kurzem meinen Mann verloren hatte.
Ich sah die Stadt und ihre Menschen plötzlich mit ganz anderen Augen als noch am Tag zuvor.
Der Satan selbst war in der Stadt.
Ich wußte, daß trotz des heutigen Sieges über die Truppen des Bischofs alles ein schlimmes Ende nehmen würde.
Mir wurde schwindlig. Ich mußte mich an der Wand eines Hauses stützen. Ein junger Mann war plötzlich neben mir. Ich blickte auf und sah große braune Augen auf mich gerichtet.
Ich erkannte den Mann. Es war der Sohn des Bischofs, der jetzt im Dienst Jan van Leydens stand. Sein Name war Christoph von Waldeck.
„Kann ich Euch helfen, Jungfer?" fragte er.
Ich nickte und sagte ihm, daß ich in der Gruetgasse wohne. Er stützte mich und brachte mich zu meinem Haus.
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