1561 - Wächterin der Nacht
man erzählt, dass sie im Tod noch gelächelt hat.«
»Dann muss sie etwas gesehen haben, denke ich.«
»Ja, das kann durchaus sein. Aber fragen Sie mich bitte nicht, was sie sah. Ich hatte sie lange nicht mehr gesehen und noch länger nicht mehr über ihre Schrullen geredet.«
»Wurde sie normal beerdigt oder verbrannt?«
»Nein, nicht verbrannt. Das hat sie nicht gewollt. Ich weiß das. Sie bekam ein ärmliches Begräbnis.«
»Aber Sie wissen, wo das Grab liegt?«
»Ja, ich bin ja zur Beerdigung mitgegangen.«
»Gut.«
Mit dieser knappen Antwort gab sie sich nicht zufrieden.
»Wollen Sie es sich denn anschauen? Es hörte sich beinahe so an.«
»Ich halte es zumindest nicht für falsch.«
»Das müssen Sie wissen.«
»Sie würden mich begleiten?«
Judy warf mir einen längeren Blick zu. »Ja, das würde ich, denn ich vertraue Ihnen.«
»Danke.«
Mir ging noch etwas durch den Kopf, das mich die ganze Zeit über nicht richtig losgelassen hatte. Deshalb stellte ich jetzt die Frage.
»Können Sie mir sagen, was Ihre Mutter dazu getrieben hat, ihr Leben auf eine derartige Weise zu führen? Dieser Dualismus, auf der einen die Heiligen, auf der anderen der Teufel. Das ist doch nicht normal, meine ich. Oder was denken Sie?«
»Nichts, wirklich nichts. Meine Mutter wurde irgendwann mal zu einer Fremden für mich.«
»Ja, das kann ich verstehen.« Ich blieb noch beim Thema. »Können Sie sich vorstellen, dass es etwas im Leben Ihrer Mutter gegeben haben muss, was sie dazu veranlasste, sich so zu verhalten?«
Sie dachte nach. »Das ist schwer zu sagen, Mr. Sinclair.«
»Ich weiß, aber das Leben ist nun mal kompliziert.«
»Gesprochen hat sie mit mir nie darüber. Vorstellen, dass etwas passiert sein könnte, kann ich jedoch nicht ausschließen. Vielleicht ist es da um Schuldkomplexe gegangen. Möglich ist alles. Ich denke, dass sie in ihrem Leben etwas hat zurechtrücken wollen.«
»Das ist gar nicht schlecht gedacht. Haben Sie denn das Gefühl, dass Ihre Mutter für Sie irgendwie noch vorhanden ist?«
Sie riss die Augen weit auf. »Wie meinen Sie das denn, Mr. Sinclair?«
Ich winkte ab. »Nehmen Sie die Frage bitte nicht zu wörtlich. Ich habe schon Fälle erlebt, da wurde mir von lebenden Personen gesagt, dass sie die Nähe der Toten spüren würden. Dass sie bei ihnen waren, obwohl man sie nicht sah.«
»Nein, das kann ich von mir nicht behaupten.«
»Sie hatten also niemals das Gefühl, dass Ihre Mutter noch um sie herum ist?«
»Das hatte ich nie, ehrlich. Tot ist tot.«
Ich räusperte mich. »Dann schließen wir dieses Thema mal ab. Aber dieser Engel war für Sie neu, wie Sie bereits sagten.«
»Darauf können Sie sich verlassen, Mr. Sinclair. Er ist absolut neu für mich gewesen, und ich habe keine Ahnung, woher er stammt. Er hat mich ja verschont, aber für mich war das so etwas wie eine Warnung. Dass er beinahe so aussieht wie ich, das ist auch für mich eine Überraschung. Dafür finde ich keine Erklärung.«
»Dennoch, Judy. Ich werde den Eindruck nicht los, dass das Erscheinen dieser ungewöhnlichen Gestalt mit Ihrer Mutter zusammenhängt.«
Judy war durcheinander. »Können Sie mir das genauer erklären?«
»Leider nicht. Aber für mich ist Ihre Mutter eine Spur, und der Engel ist es ebenfalls.«
»Er ist auch Ihr Feind.«
»Da kann ich nicht widersprechen.«
»Schließlich wollte er Sie töten. Aber das hat Liliane nicht geschafft. Und Sie haben sich nicht mal gewehrt. Aber Sie wurden auch nicht verletzt. Das ist es, was ich nicht begreifen kann. Was hat Sie geschützt, Mr. Sinclair?«
Judy King war mit dieser Frage schon auf dem richtigen Weg. Ich wollte ihr die Wahrheit nicht vorenthalten, und so holte ich mit einer bedächtigen Bewegung mein Kreuz hervor.
Judy wusste zunächst nicht, was ich vorhatte. Sie schaute mich skeptisch an, wobei sich ihr Blick in dem Augenblick veränderte, als sie das Kreuz sah.
»Himmel, was ist das denn?«
Ich lächelte. »Erkennen Sie es nicht?«
»Doch, Mr. Sinclair, doch. Es ist ein Kreuz.«
»Genau.«
»Aber es ist so anders.« Sie senkte ihre Stimme. »Ich fürchte mich nicht davor, aber in mir steigt plötzlich ein seltsames Gefühl hoch, das ich nur schlecht erklären kann.« Sie überlegte und legte dabei ihre Stirn in Falten.
Ich ließ ihr Zeit, mein Kreuz weiterhin anzuschauen. Normale Menschen schrecken vor dem Anblick nicht zurück. Gehörten sie allerdings zur anderen, der schwarzmagischen Seite, dann sahen die Reaktionen
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