1561 - Wächterin der Nacht
nicht in der Gegenwart suchen, sondern in Ihrer Vergangenheit. Vielleicht sogar in Ihrer Kindheit.«
»Daran glauben Sie?«
»Ich könnte es mir vorstellen. Um Sicherheit zu haben, müssten wir jemanden fragen. Was ist mit Ihren Eltern?«
Judy King winkte ab. »Das ist, wenn ich ehrlich sein soll, eine sehr böse Geschichte.«
»Erzählen Sie sie mir trotzdem.« Zunächst musste sie einen Schluck Wasser trinken.
Danach sammelte sie sich noch einige Sekunden und sprach zuerst über ihren Vater, den sie nie kennen gelernt hatte.
»Er hat meine Mutter noch vor meiner Geburt verlassen.«
»Aha. Und sind Sie ihm später mal begegnet?«
»Nein, nie. Das habe ich auch sehr bedauert.«
Sie zog die Nase hoch und räusperte sich.
»Er hat sich nie blicken lassen. Meine Mutter war der Meinung, dass er ausgewandert sei, auch um sich vor irgendwelchen Zahlungen zu drücken. Ich kenne nicht mal seinen Namen. Zumindest den Nachnamen nicht.«
»Den können wir also vergessen?«
»Bestimmt.«
»Und was ist mit Ihrer Mutter? Welches Verhältnis hatten Sie zu ihr?«
»Da muss ich erst mal nachdenken.« Sie rieb mit den Fingerkuppen ihrer Linken an ihrer Schläfe entlang. Bevor sie sprach, schüttelte sie den Kopf. »Meine Mutter war eine seltsame Frau. Ich weiß nicht, ob sie schon immer so gewesen ist oder erst, nachdem sie von ihrem Mann verlassen worden war. Eine tolle Beziehung hatte ich nie zu ihr. Ich will mich da nicht herausreden, aber es lag mehr an ihr als an mir. Das müssen Sie mir glauben, Mr. Sinclair.«
»Wie seltsam wurde Ihre Mutter denn?«
»Sie zog sich in sich selbst zurück und tendierte dabei in eine seltsame Richtung. Sie wurde sehr fromm.«
»Kann man auch das Wort gläubig benutzen?«
»Ja, und das sehr übersteigert.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das hatte auch nichts mit der Kirche zu tun, denn in die ist sie seltsamerweise nie gegangen, was mir auch komisch aufgestoßen ist. Meine Mutter hat ihre Kirche in der Wohnung gehabt, so ungewöhnlich das auch klingen mag.«
»Das müssen Sie mir näher erklären.«
Judy wollte es, nahm sich aber Zeit und nagte dabei auf ihrer Oberlippe, bis sie schließlich wieder zu sprechen begann.
»Unsere Wohnung war nicht sehr groß, wir konnten so gerade die Miete bezahlen. Meine Mutter hatte sich trotzdem ein eigenes Zimmer eingerichtet, in dem sie auch schlief, während ich in unserem Wohnraum schlafen musste.«
Ich war neugierig und fragte: »Was spielte sich in dem Zimmer ab?«
»Das kann ich nicht genau sagen, ich war nie dabei. Aber ich weiß, wie es eingerichtet war. Auf dem kleinen Schrank neben dem Bett und auf einem kleinen Tisch hatte meine Mutter Heiligenfiguren aufgestellt. Egal ob Männer oder Frauen. Es waren alles Heilige. Solche Figuren, die man in den Läden in den Wahlfahrtsorten kaufen kann, aber auch auf Flohmärkten. Sie waren für meine Mutter Kult. Und sie hat sich sogar eine Kniebank gekauft und sie vor den Tisch gestellt.«
»Hat sie die Figuren angebetet?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht hat sie die Figuren angebetet, vielleicht auch nur zu ihnen gebetet. Aber eines ist sicher, und das hat mich erschreckt. Es erschreckt mich auch noch heute, wenn ich daran denke.«
Ich sah, dass Judy eine Gänsehaut bekam und nach den richtigen Worten suchte.
»Bitte, wenn Sie nicht können, Judy, dann…«
»Doch, doch«, flüsterte sie. »Ich bin ja froh, dass ich mal mit einem Menschen darüber reden kann. Über dem Heiligenaltar hing ein Poster an der Wand, und sie werden nicht glauben, wen es zeigte.«
»Sagen Sie es mir.«
»Es war das Antlitz des Teufels!«
***
Es war Suko recht schnell gelungen, den Arzt zu finden, der auf dieser Station das Sagen hatte. Der Mann saß in einem winzigen Büro vor seinem Computer und legte gerade eine Pause ein. Er trank eine Tasse Kaffee, kaute an einem Sandwich und schaute unwillig zur Tür, die Suko geöffnet hatte.
»Bitte, ich habe jetzt Pause und…«
»Ich weiß, Dr. Dillard.«
»Dann warten Sie bitte, bis meine Pause vorbei ist. Der Job ist stressig genug.«
Suko schloss die Tür. »Das kann ich nicht.«
Jetzt ließ der Arzt seine karge Mahlzeit sinken und legte sie auf ein Stück Fettpapier.
»Was erlauben Sie sich, mich hier…«
»Sehen Sie sich das an.«
Suko zeigte ihm den Ausweis und war bereits so nahe an den Mann herangekommen, dass dieser den Text lesen konnte, es tat und ziemlich verwundert war.
»Scotland Yard? Was suchen Sie denn in unserem
Weitere Kostenlose Bücher