1561 - Wächterin der Nacht
sehen, weil sie sich an der der Tür gegenüberliegenden Wand befand. Sie war dunkel, Farben zwischen grau und blau.«
Judy wies auf ihre Lippen. »Ein verzerrter Mund gehörte auch dazu, und ich sah Zähne wie Stifte, die sich zu einem Gebiss vereinigten. Grauenhaft, kann ich Ihnen sagen.«
Das verstand ich. Das Gesicht des Teufels in einer scheußlichen Abbildung anschauen zu müssen ist nicht jedermanns Sache. Besonders für ein Kind, dessen Seelenleben durch einen solchen Anblick durcheinander gebracht werden konnte.
Ich hatte der jungen Frau eine Pause gegönnt und stellte jetzt die nächste Frage.
»Ist Ihnen noch etwas aufgefallen, was diese Teufelsfratze angeht?«
Sie zögerte mit der Antwort und meinte dann: »Sie dürfen mich aber nicht für verrückt halten, Mr. Sinclair.«
»Keine Sorge. Wie käme ich dazu?«
»Die Augen«, flüsterte Judy, »es waren die Augen, die mich so faszinierten. Nein, das ist nicht das richtige Wort. Sie haben mich abgestoßen, richtig abgestoßen.«
»Warum?«
Sie schaute mich scharf an. »Weil sie lebten, Mr. Sinclair. Ja, ich hatte das Gefühl, sie würden leben. Darin steckte etwas. Es machte mir Angst. Ich kann es nicht beschreiben, aber es ist so gewesen.«
»Nur die Augen lebten?«
»Ja, ja, nur sie. Sorry, ich bin noch durcheinander. Sie waren so böse. Heute würde ich unmenschlich dazu sagen. Damals als Kind sind sie für mich nur böse gewesen. Ich habe immer gefroren, wenn ich sie mal sah, was zum Glück nicht oft der Fall war.«
»Und Ihre Mutter?«
Judy hob die Schultern.
»Wissen Sie nicht, was sie mit diesem Bild wollte? Oder überhaupt mit dem Teufel? Ihr Verhalten gibt normalerweise keinen Sinn. Auf der einen Seite die Heiligenfiguren, auf der anderen die Fratze des Teufels. Das passt nicht zusammen.«
»Ja, Sie haben recht. Daran habe ich auch gedacht. Aber erst später, nicht als Kind. Auch habe ich mit meiner Mutter nie über ihr Hobby gesprochen. Ich habe mich einfach nicht getraut. Auch heute weiß ich noch nicht, ob sie damals fromm war oder das Gegenteil davon. Eigentlich ist ja beides möglich.«
Ich fragte sie jetzt direkt: »Hat Ihre Mutter den Teufel angebetet, Judy? Oder hat sie sich zweigeteilt? Auf der einen Seite die Heiligen, auf der anderen der Teufel?«
Judy griff wieder zur Wasserflasche und trank einen Schluck.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie dann, »denn ich habe mich davor gehütet, sie danach zu fragen. Später habe ich mein eigenes Leben geführt, nur musste ich öfter daran denken, dass sich in unserem Haus der Teufel aufhält.«
»Und die ungewöhnliche und absurde Frömmigkeit Ihrer Mutter blieb auch weiterhin bestehen?«
»Ja. Ich zog dann irgendwann aus. Ich habe mir einen Job gesucht, und den habe ich schon mit siebzehn Jahren bekommen.«
»Schon als Model?«
»Nein, erst in einem Szene-Treff. Da hat man mich nach einem halben Jahr entdeckt.«
»Okay. Und wie gestaltete sich danach das Verhältnis zu Ihrer Mutter?«
»Gar nicht.«
»Wie muss ich das verstehen?«
»Ganz einfach.« Sie senkte den Blick. »Wir hatten so gut wie keinen Kontakt mehr. Mal eine Karte zum Geburtstag, das war alles. Ich kam mit ihrem Hobby einfach nicht zurecht. Sie hat nicht davon gelassen. Ich glaube, sie fühlte sich wohl, wenn sie die Macht des Teufels an ihrer Seite wusste. Das war eben so.«
»Was ist heute mit Ihrer Mutter?«
»Sie lebt nicht mehr.«
»Ach…«
»Ja, sie ist tot. Und als sie starb, habe ich nur ein geringes Bedauern gespürt.«
»Wie starb sie?«
Judys Gesichtsausdruck verkantete sich.
»Selbstmord, Mr. Sinclair. Sie hat sich selbst umgebracht. Das war einfach so.«
»Hm…« Ich überlegte. »Hat Sie das nicht überrascht?«
»Weiß ich nicht.« Judy schabte mit den Sohlen über den Teppichboden. »Kann ich beim besten Willen nicht sagen.« Dann meinte sie: »Einen Hang zum Jenseits hat sie eigentlich schon immer gehabt. Sie hat hin und wieder über den Tod gesprochen und war sehr gespannt, was sie dort erwartete. Sie wollte sich, so hatte ich das Gefühl, rückversichern. Zum einen mochte sie den Himmel, zum anderen die Hölle. Wo sie nun hinkommen würde, wollte sie als Gleichgesinnte aufgenommen werden. Deshalb diese beiden Seiten.«
»Wie brachte sich Ihre Mutter um?«
»Gas!«, erwiderte Judy knapp. »Sie hat den Gashahn aufgedreht. Man hat sie recht spät gefunden, erst als die anderen Mieter im Haus auf den Gasgeruch aufmerksam wurden. Da war schon längst nichts mehr zu machen. Mir hat
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