1561 - Wächterin der Nacht
Judy nicht aus ihrer Kontrolle lassen. Ein Friedhof ist natürlich ein idealer Platz zum Sterben.«
»Dem füge ich nichts hinzu.«
»Dann fahrt ihr mal los. Ich komme nach. Kannst du mir sagen, wo ich euch ungefähr finden kann?«
»Nur unzureichend.«
»Das ist besser als nichts.«
Suko erhielt die allgemeine Beschreibung von mir. Er beschwerte sich nicht und sagte nur: »Dann treffen wir uns also auf dem Friedhof.«
»Ja, und bestimmt nicht als Tote.«
»Witzbold.« Nach diesem Wort legte er auf.
Von der Beifahrerseite her schaute Judy mich neugierig an. Sie erwartete eine Erklärung, und ich erzählte ihr in knappen Worten, was ich von Suko gehört hatte.
»Ari auch?«, flüsterte sie.
Ich nickte.
Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete durch die Nase ein.
»Wollen Sie noch immer zu meiner Mutter?«
»Haben Sie eine bessere Idee?«
»Nein, das nicht.« Sie schaute auf ihre Knie und schüttelte den Kopf. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich will oder denken soll. Es ist alles so unwirklich.« Sie winkte ab. »Ich komme mir irgendwie verloren vor.«
»Kein Sorge, wir werden das Kind schon schaukeln.«
»Und wie soll ich mit meiner Angst umgehen?«
»Lassen Sie sie zu, Judy. Wer keine Angst hat, der hat auch keinen Mut. Denken Sie darüber nach.«
»Klar.«
Ich drehte den Zündschlüssel und fuhr endlich los. Wohl war mir nicht dabei…
***
Auf dem weiteren Weg geschah nichts. Meine Begleiterin schaute bestimmt öfter als gewöhnlich aus dem Fenster, aber irgendeine Gefahr konnte sie nicht melden.
»Können Sie sich vorstellen, Mr. Sinclair, dass die andere Seite aufgegeben hat?«
»Nein, das nicht, aber lassen Sie das Mister weg. Sie können mich John nennen.«
»Danke.«
Da ich mich in dem Moloch London recht gut auskannte, war es kein Problem für mich, den Friedhof zu finden.
Je näher wir kamen, umso nervöser wurde Judy. Sie rückte unruhig auf ihrem Sitz hin und her und strich immer wieder ihre Haare zurück. Ihr Gesicht war blass, und manchmal hatte sie auch die Hände gefaltet und wohl ein stummes Gebet gesprochen.
Der Friedhof war so groß, das es zwei Eingänge gab, die sich praktisch gegenüberlagen. Das hatte ich anhand der Hinweisschilder gesehen.
»Welchen sollen wir nehmen?«, fragte ich.
»Das ist egal.«
»Okay.«
Die Häuser hörten auf. An der linken Seite zog sich das Gelände des Friedhofs hin.
Es gab keine Mauer. Hohe Bäume, die ihr erstes Grün zeigten, bildeten die Grenze, die sich bald öffnete und wir durch die Lücke auf einen Parkplatz rollen konnten.
Er war recht geräumig und bot noch genügend Platz. Ich parkte neben einer Pfütze und stieg noch vor Judy King aus, die sich danach ebenfalls aus dem Fahrzeug schraubte und langsam ihren Kopf drehte. Dabei fiel mir die Gänsehaut in ihrem Gesicht auf.
»Keine Sorge, wir packen es.«
»Das sagen Sie so.«
Ich hob meinen rechten Arm und zog sie an mich. »Wir müssen nur die Ruhe bewahren.«
Sie tippte gegen meine Brust. »Vertrauen Sie so sehr auf Ihr Kreuz?«
»In der Tat.«
»Aber Liliane weiß jetzt Bescheid, welche Waffe sie besitzen. So einfach wird sie sich nicht wieder überlisten lassen.«
»Dabei habe ich auch noch ein Wort mitzureden.«
Ein leichter Schüttelfrost erfasste ihren Körper. »Ich kann Ihre Nervenstärke nur bewundern.«
»Das lernt man in meinem Job.«
Bis zum Friedhof selbst waren es nur ein paar Schritte. Normalerweise muss man ein Tor durchschreiten. Das war hier nicht nötig, denn es gab keines. Wir konnten ohne Weiteres das Gelände betreten und sahen rechts und links bereits die ersten kleinen Gräber, die zum neueren Teil gehörten. Flache Gräber mit kleinen Steinen oder Kreuzen. Auf einigen blühten erste Frühlingsboten.
Unser erstes Ziel war die Trauerhalle, die nicht weit entfernt stand. Ein dunkles Backsteingebäude mit einem schrägen Dach, das erst etwa zwei Meter über dem Erdboden endete.
Die Halle befand sich noch am Rand des Friedhofs. Wir hörten Männerstimmen. Es waren keine Leute, die auf dem Friedhof trauerten, denn ihre Unterhaltung wurde öfter von Lachen unterbrochen. Wahrscheinlich erzählte man sich dort die neuesten Witze.
Ein Lieferwagen mit offener Ladefläche stand an der Rückseite der Trauerhalle.
Zwei Männer waren dabei, Kästen mit Blumen abzuladen. Ein dritter Mann stand daneben, spielte Denkmal und qualmte eine Zigarette.
Als man uns sah, verstummten die Gespräche der Männer, die Arbeitskleidung trugen.
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