1563 - Blut-Geschwister
du?«
»Noch nicht ganz. Ich habe doch auch sein Blut getrunken, aber ich habe meine Unruhe nicht mit ihm in Verbindung gebracht.«
»Dann will ich es dir sagen, Bruder. Wir haben uns viel Mühe gegeben, dass niemand auf uns aufmerksam wird. Aber jetzt hat man uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
»Wie kommst du darauf?«
»Es gibt Boris nicht mehr, Bruder. Wir können nicht mehr auf seine Hilfe bauen. Er kann uns keine Türen in dieser Residenz mehr öffnen, um ungehindert an das Blut der Menschen zu kommen.«
»Warum sagst du das?«
»Weil es Boris nicht mehr gibt. So ist es. Es gibt ihn einfach nicht mehr. Er gehört nicht mehr zu uns. Er ist vergangen und auch Vergangenheit.«
»Du meinst, man hat ihn vernichtet?«
»Ja, das hat man getan. Ich weiß es genau. Er wurde vernichtet. Es gibt ihn nicht mehr.«
Leon blieb liegen, ohne ein Wort zu sagen. Er spürte unter sich die Wolldecke, auf der er lag. Er hätte sie nicht gebraucht. Als Vampir spürte er weder Wärme noch Kälte.
Nach einer Weile fragte er: »Du bist dir sicher, Schwester?«
»Ja. Ich spüre es tief in mir. Ich habe zuerst sein Blut getrunken. Meine Verbundenheit mit ihm ist stärker als deine. Deshalb bin ich mir sicher.«
»Und was ist mit unserem Plan?«
»Den müssen wir ändern.«
Leon stöhnte leise auf. »Du glaubst nicht mehr daran, dass das Blut für uns zu erreichen ist?«
»Nein, nein, Leon, sieh das nicht so pessimistisch. Wir müssen uns nur umstellen.«
»Weißt du auch wie?«
»Ja. Wir werden hingehen. Wir werden die Stelle von Boris übernehmen. Schon in der nächsten Nacht. Was er vorbereiten sollte, das lastet nun auf unseren Schultern. Wir müssen raus hier.«
Leon stöhnte erneut. Diesmal hörte es sich schon unwilliger an. Er gab ein schnaubendes Geräusch von sich, aber er wusste auch, dass Lena recht hatte. »Gut, dann lass uns nach oben gehen.«
»Das wollte ich schon die ganze Zeit über.«
Beide standen auf. Und beide bewegten sich in der Dunkelheit des alten Kellers so sicher wie ein Mensch bei Tageslicht. Es hing nicht damit zusammen, dass sie den Raum gut kannten, sie konnten in der Finsternis sehen wie Katzen. Dunkelheit war ihre Zeit, und daran würde sich nie etwas ändern.
Leon ging vor und schob die Falltür auf. Und schon wich die Finsternis, denn von oben her sickerte eine graue Helligkeit nach unten. Die Fensterläden oben waren nicht völlig geschlossen. Durch die verschiedenen Spalten kroch das Tageslicht und schuf eine Atmosphäre, die nicht dunkel, aber längst auch nicht hell war. Es herrschte ein finsteres Zwielicht.
Es war ein recht großes und auch altes Haus, das praktisch aus einem einzigen großen Wohnraum bestand. Die seitlich gelegenen viel kleineren Kammern waren früher als Ställe für Schafe und Ziegen benutzt worden. Die Menschen damals hatten in diesem großen Raum gelebt und auch geschlafen. Nachts hatten sie sich um den Ofen herum Lager gebaut.
Die Geschwister bewegten sich durch das Zwielicht. Möbel waren vorhanden. Sehr alt, aber sie stammten nicht aus dem Besitz der ehemaligen Bewohner. Die Geschwister hatten sie besorgt. Fast alles stammte vom Sperrmüll, war aber noch zu gebrauchen.
Manchmal brauchten auch sie Licht. Das war heute der Fall. Kerzen dienten als Spender. Elektrisches Licht gab es hier nicht. Außerdem fühlten sie sich bei Kerzenschein wesentlich wohler.
Vier Kerzen reichten aus. Sie standen auf dem eisernen Ofen, in dessen Umgebung es nach kalter Asche roch. Der Geruch würde wohl auch nach hundert Jahren noch nicht völlig verschwunden sein.
Das Licht riss ihre Körper aus der Dunkelheit. Man konnte die beiden Blutsauger durchaus als schöne Menschen bezeichnen. Sie sahen beide gut aus.
Da war Leon mit seinen dunklen kurz geschnittenen Haaren, die wie eine Kappe auf seinem Kopf lagen. Er hatte ein Gesicht mit sehr unterschiedlichen Zügen. Es wirkte sowohl hart als auch weich. Härter in der oberen Hälfte mit den Augen, weicher um den Mund herum, was auf eine gewisse Sensibilität schließen ließ. Das beeindruckte besonders die Frauen, mit denen er immer leichtes Spiel hatte.
Bekleidet war er mit einem schwarzen T-Shirt und einer ebenfalls schwarzen Hose, die seine Beine noch mehr zu strecken schien. Selbst das Kerzenlicht konnte die Blässe aus seinem Gesicht nicht völlig vertreiben.
Lena sah aus wie ein wahr gewordener Männertraum. Eine wilde, lange blonde Mähne umgab ihren Kopf. Ein ebenmäßiges Gesicht, das sehr weiblich
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