1572 - Das Ritual
vorbei.
Harry Stahl lenkte das Boot wieder näher an das Ufer heran.
Wir hatten fast das nördliche Ende des Sees erreicht. Hier gab es noch die Stellen, die der Natur überlassen worden waren, und hier war es auch schwer, an das Ufer heranzukommen, weil ein Schilfgürtel in den See hineinwuchs. Wenn man genau hinschaute, und das tat ich, war auch eine Landzunge zu erkennen, die sich wie ein dicker Finger in den See hineinstreckte.
Ob sich auf der Zunge etwas befand, war nicht zu sehen. Dafür war sie zu dicht bewachsen. Von der Distanz aus gesehen bildete das Strauchwerk so etwas wie eine natürliche Barriere. Bäume wuchsen erst dahinter hoch, und noch ein Stück weiter führte die Straße vorbei. Hin und wieder hörten wir den Motor eines vorbeifahrenden Wagens.
Ich konnte mir nicht helfen, ich hielt diese Landzunge für interessant.
Dagmar Hansen schien es ähnlich zu ergehen. Auch sie konnte ihren Blick nicht davon lösen.
Harry bemerkte unser Verhalten. Er fragte: »Soll ich den Motor mal ausstellen? Dann können wir uns treiben lassen.«
»Wäre nicht die schlechteste Idee.«
Er nickte mir zu. Wenig später war der Motor nicht mehr zu hören. Das Boot schaukelte lautlos auf den kleinen Wellen, und wir genossen die abendliche Stille auf dem Wasser, wobei das Geräusch der Wellen wie eine Melodie klang, die stets irgendwie gleich blieb, sich aber trotzdem veränderte.
Harry fragte mich: »Ist es die Halbinsel?«
»Ja.«
Er hob die Schultern. »Es ist nicht einfach, an sie heranzukommen. Zumindest von der Seeseite her nicht. Von der Landseite her würde es besser gehen, aber dafür haben wir uns nicht entschieden.«
»Schade, dass wir kein Fernglas haben.« Ich bedauerte es wirklich.
Okay, wir hätten näher an die Landzunge heranfahren können, aber davon nahmen wir Abstand. Mein Gefühl sagte mir, dass dies nicht gut war.
Ich schaute auf das Schilf, das sich leicht bewegte. Immer wieder schwappten die Wellen dagegen, fanden die Lücken zwischen den hohen Gräsern und rollten dort aus.
Unser Boot trieb nicht auf der Stelle. Wir merkten schon, dass es unter Wasser Strömungen gab. Die Oberfläche sah ruhig aus, aber was sich darunter abspielte, konnten wir nicht sehen.
»Was ist das denn?«
Dagmars verwundert klingende Stimme riss uns aus unseren Gedanken.
Wir schauten sie an.
»Wo?«, fragte ich.
»Da auf dem Wasser!«
Sie hatte in eine andere Richtung geschaut. Harry und ich mussten uns umdrehen, sahen im ersten Augenblick nichts, bis Dagmar mit dem ausgestreckten Arm in eine bestimmte Richtung wies.
»Das müsst ihr doch sehen.« Ihre Stimme klang leicht ungeduldig.
Harry und ich entdeckten es zur selben Zeit.
»Da schwimmt was auf dem Wasser«, flüsterte er.
»Genau«, bestätigte ich, »und es ist nicht mal klein.«
»Ein entwurzelter Busch?«
Keiner erkannte etwas. Bis Harry sagte: »Okay, das Ding sehen wir uns mal aus der Nähe an.«
Kurze Zeit später war die Stille wieder vorbei. In langsamer Fahrt tuckerten wir dem Ziel entgegen, das gar nicht mal so klein war und eine Form aufwies, die in mir eine schlimme Befürchtung aufkeimen ließ. Ich hoffte nicht, dass sich mein Verdacht bestätigte, den ich für mich behielt.
Eine Stange mit Enterhaken gab es nicht an Bord. Wir mussten den Gegenstand, wenn überhaupt, mit bloßen Händen an Bord hieven.
Wir kamen ihm immer näher, und dann musste Harry beidrehen, weil der Gegenstand sonst von uns weggetrieben wäre.
Jetzt war er deutlich zu erkennen. Neben mir stieß Dagmar Hansen scharf die Luft aus. Auch sie hatte gesehen, was da dicht an der Bordwand entlang trieb.
Es war eine männliche Leiche!…
***
Es war nicht der Moment, an dem wir uns gegenseitig Fragen stellten, die sowieso niemand beantworten konnte. Jetzt hieß es, handeln und den Toten an Bord hieven. Und es musste schnell gehen, damit wir oder der Tote nicht abgetrieben wurden.
Harry und ich bückten uns zugleich. Wir bekamen die Kleidung des Toten zu fassen, und mit vereinten Kräften gelang es uns, den starren Körper an Bord zu zerren.
Wir zogen ihn über das Deck zum Heck und ließen ihn dort auf dem Rücken liegen. Er hatte noch nicht lange im Wasser gelegen, das war zu erkennen, denn es gab keinerlei Verfärbungen an seiner Haut, die einfach nur nass war.
Ich kniete neben dem Toten und betrachtete dessen Gesicht. Es war mir fremd. Den Mann hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.
Ein rundes Gesicht, dessen Mund weit offen stand. Äußerliche
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