1573 - Blick in die Zeit
setzen. Da es mehr Tamräte als Zellaktivatoren gab, würden sie sehr schnell damit beginnen, sich gegenseitig nach besten Kräften zu dezimieren, um die eigenen Chancen zu verbessern.
Diese Erkenntnis versetzte Nermo Dhelim einen ziemlichen Schock.
Zum einen fragte er sich, warum er nicht schon viel früher bemerkt hatte, wie es um die Moral der lemurischen Regierung bestellt war. Zum anderen drängte sich ihm die Frage auf, ob nicht vielleicht auch alle sonstigen Vorstellungen, die er sich von seinen Artgenossen gemacht hatte, falsch waren.
Anfangs spielte er mit dem Gedanken, daß der Zellaktivator ihn dazu befähigte, Zusammenhänge zu sehen, die er vorher nicht durchschaut hatte. Aber alsbald wurde ihm klar, daß die Erklärung viel einfacher war: Er hatte sich vorher nie mit politischen Vorgängen beschäftigt. Er hatte einfach keine Notwendigkeit dafür gesehen.
Was das Volk der Lemurer in seiner Gesamtheit betraf, so gab sich Nermo Dhelim alle Mühe, den sich ihm aufdrängenden Verdacht zu ignorieren. „ES hat uns auserwählt", sagte er zu sich selbst. „Und ES wird schon wissen, wie wir wirklich sind."
Es mußte Lemurer geben, die als Träger der kostbaren Zellaktivatoren geeignet waren. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, diese Lemurer zu finden.
Nermo Dhelim beschloß, die Angelegenheit mit den beiden einzigen Personen zu besprechen, von denen er glaubte, daß er ihnen vertrauen konnte. Da ihm mittlerweile bewußt war, welch kostbaren Schatz er in Verwahrung genommen hatte, würde er selbst diesen beiden nicht die volle Wahrheit sagen.
Jedenfalls nicht von Anfang an. Nermo Dhelim machte sich auf den Weg zu seiner Tochter.
Ermigoa sagte zunächst gar nichts. Sie starrte ihren Vater nur wortlos an. Er fragte sich voller Unbehagen, ob sie etwa immer noch wütend auf ihn war.
Als er sie verlassen hatte, war sie sehr schlecht aufgelegt gewesen. Sie hatte behauptet, er jage Hirngespinsten nach. Zum damaligen Zeitpunkt war sich Nermo Dhelim nicht ganz sicher gewesen, ob sie damit nicht sogar recht hatte.
Dabei hatte Ermigoa noch nicht einmal gewußt, welcher Spur er tatsächlich nachging. Wenn sie es auch nur geahnt hätte, hätte sie ihn wahrscheinlich für verrückt erklärt.
Sie war eine erstaunlich nüchterne junge Lemurerin.
Als Nermo Dhelim seine Tochter vor sich stehen sah, konnte er plötzlich kaum glauben, daß sein Besuch auf der Welt der Unsterblichkeit wirklich erst wenige Tage zurückliegen sollte. Es kam ihm eher so vor, als seien inzwischen Jahre vergangen.
Selbst Ermigoa kam ihm verändert vor.
Wirkte sie nicht viel erwachsener als bei ihrer letzten Begegnung? „Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?" fragte sie nach einigen Sekunden, in denen sie sich schweigend gegenübergestanden hatten.
Nermo Dhelim war drauf und dran, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. „Laß uns später darüber sprechen", schlug er statt dessen vor.
In den letzten Tagen war ihm bewußt geworden, daß er von nun an sehr vorsichtig mit seinen Worten umgehen mußte.
Dieser Gedanke stimmte ihn wehmütig. Er fragte sich, wie hoch am Ende der Preis sein würde, den er für die Unsterblichkeit zu zahlen hatte.
Er war nie ein sehr geselliger Lemurer gewesen. Es machte ihm nichts aus, allen möglichen Leuten gegenüber vorsichtig zu sein. Aber bei seiner eigenen Tochter war es etwas anderes.
Und das wird es auch immer bleiben, dachte er.
Trotzdem sagte er ihr nicht die Wahrheit.
Jetzt noch nicht, sagte er in Gedanken zu sich selbst. Ich muß den richtigen Augenblick abwarten.
Er vertraute Ermigoa.
Sie würde nichts Unrechtes tun. Sie war geradezu besessen vom Glauben an die Gerechtigkeit.
Selbst der Gedanke an die Unsterblichkeit würde sie nicht dazu bringen, von ihren Prinzipien abzuweichen.
Eher würde das Gegenteil eintreten.
Ermigoa war noch sehr jung. Sie war sehr idealistisch, und sie war kerngesund. Sie hatte feste Vorstellungen davon, wie das Leben sein sollte. Dank Nermo Dhelims Fürsorge hatte sie noch nie erfahren, wie grausam das Schicksal mitunter sein konnte und wie wenig es sich um die Pläne der Sterblichen kümmerte.
Erst vor wenigen Monaten, bei einem ihrer letzten Gespräche, hatte sie ihm ihre Gedanken über den Tod mitgeteilt.
Sie hielt ihn für die natürlichste Sache der Welt.
Es war nicht so, daß Nermo Dhelim die Überlegungen seiner Tochter zu diesem Thema als falsch einstufte. Er war jedoch der Meinung, daß es einen Unterschied ausmachte, von welchem Standort
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