1576 - Die Leichengasse
Tun Sie mir den Gefallen.«
»Klar«, sagte Suko. »Und wohin soll ich fahren?«
»Nur bis zum Ende der Straße. Dann nach rechts. Dort gibt es einen klein Parkplatz.«
»Wie Sie wünschen.«
Ich drehte mich auf dem Beifahrersitz um, damit ich die Frau anschauen konnte.
Sie saß noch immer geduckt. Von ihrer kühlen Aura, die wir bei der ersten Begegnung erlebt hatten, war nichts mehr übrig geblieben. Sie war jetzt eine Frau, die Angst hatte. Ihr Gesicht war noch blasser geworden. Wie im Krampf umklammerte sie eine dunkle Handtasche.
Erst als wir um die Kurve bogen, atmete sie auf.
Die kleine Parktasche war nur wenige Meter entfernt. Dort hielt Suko an.
Das Laub einiger Bäume spendete Schatten, die ein zackiges Muster auf die Frontscheibe warfen.
Suko und ich drehten uns zu ihr um.
»Und jetzt mal raus mit der Sprache«, sagte ich. »Was treibt Sie in unsere Arme?«
»Das schlechte Gewissen«, flüsterte sie.
»Aha. Und wie sieht das im Einzelnen aus?«
Sie senkte den Blick wie jemand, der sich schämt. »Das ist für mich alles nicht so einfach zu erklären, aber Ihr Besuch hat mich aufgerüttelt, wenn ich das mal so sagen darf.«
»Dann wissen Sie also mehr?«
Sie schnaufte. »Ja, ich weiß mehr, denn ich selbst bin daran beteiligt. Mein Chef weiß von nichts. Ich habe es auch nicht als schlimm angesehen, diesem Tyrannen eins auszuwischen. Er behandelt seine Mitarbeiter nicht gerade sehr menschlich. Zumindest ich bin für ihn so etwas wie ein Fußabtreter. Da habe ich mich eben gerächt. Ja, das habe ich«, erklärte sie mit fester Stimme.
»Und was hat er Ihnen angetan?«, fragte Suko.
»Ach, das ist nicht so wichtig. Ich werde sehr schlecht bezahlt und auch sonst. Aber ich habe den Leuten geholfen, die Leichen zu stehlen. Ich habe sie eingelassen. Deshalb gab es auch keine Einbruchsspuren. Dass ich an der Aktion beteiligt war, darauf wäre mein Chef nie gekommen. So etwas traut er mir, der grauen Maus, die zu allem ja und amen sagt, gar nicht zu. Aber jetzt, wo diese Detektivin verschwunden ist, bekomme ich es schon mit der Angst zu tun.«
»Sie glauben, dass ihr etwas passiert sein könnte?«
»Ja, Mr. Sinclair, das glaube ich. Und dieser Gedanke lässt mich einfach nicht mehr los.«
»Wer hat die Leichen gestohlen?«
Dinah Parker hob die Schultern. »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich kenne die Männer nicht. Ich habe auch nie ihre Gesichter gesehen. Sie waren unter Strumpfmasken verborgen, aber ich habe von ihnen Geld bekommen. Für jede Leiche einhundert Pfund. Das ist nicht unbedingt viel, doch ich habe mich mehr an meiner Rache ergötzt.«
»Und Sie haben den Männern nur den Weg freigemacht?«
»Ja.«
Ich war skeptisch. »Sie haben keine Fragen gestellt?«
Diesmal dauerte es länger mit der Antwort.
Dinah Parker senkte den Blick. Auf mich wirkte sie wie eine zwiespältige Persönlichkeit. Sie war nicht mehr ganz jung, man konnte sie auch nicht als unbedingt hübsch bezeichnen, eben ein Durchschnittsmensch, der unter seiner Durchschnittlichkeit litt und nun eine Chance gesehen hatte, sich in den Vordergrund zu schieben.
»Einmal habe ich schon gefragt«, gab sie mit leiser Stimme zu.
»Und was wurde Ihnen geantwortet?«
Jetzt ruckte ihr Kopf in die Höhe. »Etwas Schreckliches, wie ich finde. Man sprach von einer Leichengasse.«
Suko und ich horchten auf. Unsere Blicke wurden starr, was Dinah auch bemerkte.
»Ja, ich habe mich nicht verhört. Man hat von einer Leichengasse gesprochen.«
»Und wo soll die sein?«
»Ich weiß es nicht. Aber mir ist dabei schon unheimlich zumute gewesen.«
»Das kann ich Ihnen nachfühlen. Wie Sie sagten, haben Sie den Leichenräubern geholfen. Aber wie ist das abgelaufen? Können Sie uns das sagen?«
Dinah Parker hatte mich nicht richtig verstanden. »Was meinen Sie damit?«
Suko verdeutlichte ihr meine Worte. »Jemand muss doch mit Ihnen in Verbindung getreten sein. Oder nicht?«
»Ja, das schon.«
»Und wie hat er das getan?«
»Ich erhielt einen Anruf. In meiner Wohnung. Das war der erste Kontakt. Man hat mich gefragt, ob ich mir gern ein paar Scheine nebenbei verdienen will. Da habe ich zugestimmt.«
»Und dann haben Sie die Männer nur maskiert gesehen?«
»So ist es.«
»Und man hat von einer Leichengasse gesprochen?«
»Ja.«
Suko und ich schauten uns an.
Okay, wir hatten etwas mehr erfahren, doch es brachte uns nicht weiter.
Es gab also eine Leichengasse, doch wir wussten nicht, wo wir sie hätten
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