1576 - Die Leichengasse
sein Maul geöffnet, und sie erkannte einen weiteren Unterschied zu dem Bestatter.
Der Leichenfresser hatte andere Zähne. Sowohl oben als auch unten.
Sie erinnerten an zwei Kämme mit zugespitzten Zinken. Nur deshalb war es ihm möglich, den Menschen die Haut und das Fleisch von den Knochen zu reißen.
Zeit gewinnen, das war am besten, und so stellte Jane ihre nächste Frage.
»Wo bin ich hier?«
»In meinem Reich.«
»Und wo liegt es?«
»Da, wo Dämonen und Schwarzblütler sich wohl fühlen. Im Augenblick gehört es mir. Aber ich kann diesen Ort auch verlassen und ihn gegen einen anderen austauschen. Nur will ich das nicht, denn hier geht es mir gut.« Er reckte sich, um es auch körperlich zu demonstrieren, und der Schleim auf seinem Körper ließ ihn beinahe aussehen wie einen Gummimenschen.
Jane glaubte es ihm aufs Wort. Hier ging es ihm gut. Da gab es einen Bruder, der ihn mit Nahrung versorgte, und so konnte er hier richtig aufleben.
Er hatte genug gesagt. Er öffnete erneut das Maul, aber nicht nur, um seine Mordzähne zu präsentieren, es gab noch einen anderen Grund.
Jane Collins sah seine Zunge aus dem Mund gleiten.
Sie sah aus wie ein langer heller Schleimfaden, der schon Sekunden später wieder in die Maulhöhle zurückzuckte.
Danach hörte sie seine Stimme. Diesmal klang sie bedrohlich, als wäre er mit seiner Geduld am Ende.
»Ich will, dass du zu mir kommst!«
Die Detektivin wusste, dass es keinen anderen Weg für sie gab. Ihre Kehle war ausgetrocknet, als sie nickte und sich danach in Bewegung setzte wie ein Delinquent, der seinem Henker entgegengeht…
***
Ein Schritt durch die Wand, und die Welt war eine andere. Eine düstere, eine unheimliche, und ich stellte augenblicklich fest, dass der Begriff Leichengasse passte.
Häuser standen zu beiden Seiten der schmalen Straße dicht beisammen. Zwischenräume sah ich nicht. Sie schienen alt und baufällig zu sein. Es sah so aus, als müssten sie sich gegenseitig stützen, um nicht umzufallen.
Auch ohne den aus manchen Fenstern fallenden Lichtschein wäre es nicht völlig dunkel gewesen. Über uns lag ein grauer Himmel mit dichten Wolken, die von keinem Wind getrieben wurden. Ich empfand die Luft um mich herum als schwül und drückend und ging davon aus, dass sie mit der Luft in unserer Welt eine große Ähnlichkeit hatte.
Ich sah einige Lichtinseln, die sich vor den Häusern auf dem Boden ausgebreitet hatten. Das waren so etwas wie Anlaufstellen für uns, aber viel wichtiger wäre es gewesen, wenn wir eine Spur von Jane Collins und auch dem Ghoul gefunden hätten.
Der Bestatter stand zwischen Suko und mir. Er atmete heftig, und er glotzte dabei nach vorn. Es ging ihm nicht gut. Beim Einatmen stöhnte er und bewegte den breiten Mund, ohne etwas zu sagen. Das Haar klebte jetzt schweißnass auf seinem Kopf.
Ich tippte ihm gegen die Schulter.
»Wo sind die Toten?«, wollte ich wissen.
Grant hob die Schultern. »Das kann ich nicht genau sagen. Wahrscheinlich in den Häusern. Ich bin nur einmal hier gewesen.«
»Mit Ihrem Bruder?«
»Ja.«
»Und wo haust er?«
Er hob die Schultern an. »Überall eigentlich.«
»Schon gut.« Ich gab es auf, denn Aaron Grant war nicht mehr in der Lage, normal zu antworten. Er stand unter einem großen Druck und musste auch Furcht vor der Zukunft haben.
Wir hatten hier nichts mehr zu suchen. Es gab keinen Ghoul in der Nähe, dafür die erleuchteten Fenster, und die nahmen wir uns zuerst vor.
Suko entschied sich für die linke Seite. Aaron Grant und ich wandten uns nach rechts. Ich hatte damit gerechnet, den einen oder anderen Toten zu sehen, als ich durch das Fenster schaute, aber wir hatten Pech. Es gab nur das Licht und keinen Toten.
Suko hatte mehr Glück. Er rief uns auf die andere Seite.
»Schau mal in das Haus.«
Eine alte Frau lag tot auf einem Bett. Sie sah schlimm aus, und ich wandte mich an den Bestatter.
»Kennen Sie die Tote?«
Er nickte. Sein Gesicht zeigte einen verkniffenen Ausdruck.
»Sie ist also Nachschub für Ihren Bruder?«
»So ist es.«
»Lass uns weitergehen«, sagte Suko, »ich denke, dass uns noch einige Überraschungen bevorstehen.«
Ich schaute meinen Freund prüfend an. »Hast du etwas gesehen?«
»Ja.« Er deutete nach vorn. »Ein Stück weiter, John. Es sieht aus, als läge dort jemand mitten auf der Straße.«
Als ich in die Richtung blickte, entdeckte auch ich den dunklen Gegenstand.
Ob es wirklich ein Mensch war, konnte ich nicht genau
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