1587 - Midnight-Lady
dort herum, um das, was sie Leben nennen, zu genießen. Das habe ich ihren Eltern auch gesagt. Wir sind hier zwar recht streng, aber noch lange kein Gefängnis. Diejenige, die gehen will, kann auch gehen. Hier gibt es keine Mauern. Sobald die Schülerinnen die Schule hier verlassen, fühlen wir uns nicht mehr zuständig.«
Ich hatte zugehört und die Chefin nicht einmal unterbrochen. Ihre Worte hatten auf mich wie auswendig gelernt geklungen, und sie hatte auch nichts von ihrer Sicherheit verloren.
»Ja, das sehe ich ein«, sagte ich mit leiser Stimme.
»Haben Sie schon mit den Eltern geredet?«
Ich hob nur die Schultern.
Sie sprach weiter. »Aber ich habe mit den beiden Elternpaaren gesprochen. Sie sind meiner Meinung gewesen. Sie glauben auch, dass sich ihre Kinder in London oder wo auch immer herumtreiben. Wir jedenfalls sehen uns nicht in der Schuld, und deshalb wundert es mich, dass Sie plötzlich hier erscheinen.«
»Das ist nicht grundlos geschehen«, sagte ich. »Es hat sich schon etwas verändert.«
»Und was?«
»Eve und Bianca sind gefunden worden.«
»Bitte?« Elenor Nelson tat überrascht. »Gefunden worden? Das kann ich kaum glauben.«
»Es ist aber so.«
Sie schnaufte und sagte dann: »Das hört sich aber schlimm an.«
»Es hört sich nicht nur so an, es ist auch schlimm.«
»Wieso?«
Ich rückte nun mit der Wahrheit heraus. »Eve und Bianca sind leider tot.«
Die Direktorin schwieg. Sie schluckte, und ich sah, wie stark sich dabei die dünne Haut an ihrem Hals bewegte.
»Ahm, Sie sind sicher?«
»Säße ich sonst hier?«
»Ja, ja, schon gut.« Sie fing an zu überlegen, und ich wusste noch immer nicht, ob sie mir etwas vorspielte oder ob sie tatsächlich vom Schicksal der Mädchen betroffen war.
Elenor Nelson nickte, was nicht nach einer Bestätigung aussah.
»Wie - wie sind sie denn umgekommen? Verunglückt…?«
»Nein, sie wurden ermordet.«
Erneut schluckte sie, wurde auch blass. Wenn ich allerdings einen Blick in ihre Augen warf, dann hatte ich den Eindruck, als wäre sie gar nicht so stark geschockt. Sie hätte mir auch hier etwas vorspielen können, aber ich wollte nicht ungerecht sein, denn jeder Mensch reagiert anders auf so schlimme Nachrichten.
»Dass - ich meine, wissen die Eltern schon Bescheid?«
»Nein. Ich bin erst zu Ihnen gekommen.«
»Warum das denn? Was hat unsere Schule damit zu tun, wenn sie in London umgebracht wurden?«
»Es passierte nicht in London.«
»Ach…«
Ich dachte nicht mehr darüber nach, ob sie schauspielerte oder nicht, ich kam gleich zur Sache.
»Die beiden Schülerinnen wurden in einem Haus umgebracht, das sich nicht mal weit von hier entfernt befindet. Es gehört einer gewissen Martha Tresko. Kennen Sie die Person?«
»Nein, die kenne ich nicht. Ich - hm - bin kein Mensch, der sich um entfernt wohnende Nachbarn kümmert. Meine Aufgabe liegt hier in der Schule. Und hier versuche ich, möglichst gut zu sein.«
»Was Ihnen bei Eve und Bianca nicht gelungen ist.«
»Dafür kann ich nichts.« Diesmal schrie sie mich an. »Ich bin nicht die Hüterin der jungen Menschen, wenn sie sich außerhalb der Schulmauern befinden. Sobald sie die Schule hier verlassen haben, hört mein Einfluss auf. Sie müssen den Täter schon woanders suchen!«
Ihr harter und funkelnder Blick traf mich, bevor sie ihren Stuhl zurückrollte und sich von ihm erhob.
Ich wusste nicht, was sie vorhatte, nahm an, dass sie sich etwas zu trinken holen wollte, was ein Irrtum war, denn sie ging auf das große Fenster zu und öffnete es. Ohne sich umzudrehen, sprach sie mich wieder an.
»Ich brauche Luft, verstehen Sie? Es war einfach zu hart, was Sie mir da gesagt haben.«
»Das kann ich verstehen.«
Elenor Nelson drehte sich um. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie nahm wieder Platz und fragte mich: »Was haben Sie jetzt vor?« Sie lachte. »Dumm von mir. Natürlich suchen Sie den oder die Mörder.«
»Das ist der Fall. Es gehört zu meinem Job.«
»Haben Sie einen Verdacht?« Die Frage war wie nebenbei gestellt worden.
Ich allerdings hatte das Lauern dahinter nicht überhört. Gelassen gab ich die Antwort.
»Ja, ich habe einen Verdacht?«
»Ach, das ist gut. Darf ich mehr erfahren?«
»Nein.«
Sie ließ nicht locker. »Ist es - ist es diese Martha Tresko, von der sie erzählt haben?«
»Bestimmt nicht.«
»Gegen wen richtet sich Ihr Verdacht dann?«
»Gegen eine andere Macht.«
»Ach…«
»Ja, gegen eine Macht, die…« Etwas riss mir die Worte von
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