1587 - Midnight-Lady
Geräuschkulisse fuhr auf die Cavallo nieder, die trotzdem leise war und eher mit einem fauchenden Windstoß verglichen werden konnte.
Wieder jagten die Tiere in die Nacht hinein. Und erneut bildeten sich kleine Pulks, die wie Angriffswellen fungierten.
Justine hatte sich darauf vorbereiten können. Dennoch wunderte sie sich, und sie musste das Durcheinander erst einmal sortieren.
Etwas fiel auf sie nieder. Die zahlreichen Flattertiere hatten sich aus dem Baumgeäst gelöst. Die Zeit des Wartens und des Lauerns war vorbei.
Die flatternden Blutsauger ließen sich auf sie fallen, und Justine Cavallo sah plötzlich nichts mehr…
***
Der Hausmeister war vor einer Tür in der hinten Hälfte des Internatsgebäudes stehen geblieben und bedachte mich mit einem finsteren Blick.
»Ist was?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
»Dann bitte.« Ich wollte endlich die Chefin sehen. Das Schild neben der Tür war mir bereits aufgefallen. Ich würde ein Büro betreten und kein Privatzimmer, was mir auch recht war.
Der Hausmeister klopfte nahezu scheu an. Ein schwacher Stimmenklang erreichte uns, dann wurde mir die Tür geöffnet und ich betrat wenig später eine nüchterne Welt.
Ein Schreibtisch, hinter dem eine Frau saß. Ein großes Fenster. Mit Akten gefüllte Regale an den Wänden. Ein großer Schrank, der mich an einen Tresor erinnerte. Natürlich gab es auch einen Computer und einen alten Holzfußboden, über den ich mich auf den Schreibtisch zu bewegte, der vom Licht einer Stehleuchte mit einem großen weißen Pilz überflutet wurde.
Das alles interessierte mich nicht besonders. Äußerlichkeiten waren unwichtig.
Ich wollte nur zu der Person, die hinter ihrem Schreibtisch saß und jetzt sogar aufstand.
Elenor Nelson war eine große Frau. Auf sie traf durchaus das Attribut stattlich zu. Braunes Haar, in der Mittel gescheitelt und eng an beiden Seiten des Kopfes herabhängend.
Ich schätzte sie auf fünfzig Jahre. Vom Gesicht her war sie nicht die warme und mütterliche Lehrerin, die für die Probleme der ihr anvertrauten Schüler Verständnis hatte. Wenn ich sie mir so betrachtete, wirkte sie eher wie eine Frau, die auf Disziplin und eine gewisse Strenge achtete. In ihrem Gesicht zeigte sich kein Lächeln, und sie schaute mir auch nicht eben freundlich entgegen.
»Man sagte mir, dass Sie John Sinclair heißen und bei Scotland Yard beschäftigt sind.«
»Das ist korrekt.«
Mit der ringlosen Hand deutete sie auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch, zupfte ihr Kostüm zu Recht und nahm ebenfalls ihren Platz ein. Wir schauten uns über den Schreibtisch hinweg an. Mir entging das Lauern in ihren Augen nicht.
Sie kam auch sofort zur Sache. »Ich wüsste nicht, was ich mit Scotland Yard zu tun hätte. Und das zu einer Zeit, die man schon als unchristlich bezeichnen kann.«
»Da stimme ich Ihnen zu, Mrs. Nelson.«
»Wie beruhigend.«
»Ich wäre auch nicht gekommen, wenn es nicht so dringend wäre.«
»Ja, das glaube ich Ihnen. Und ich denke, dass Sie zur Sache kommen sollten.«
»Gern. Es um zwei Ihrer Schülerinnen.«
»Was haben sie angestellt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Warum sind Sie dann überhaupt hier?«
»Weil Eve und Bianca verschwunden sind.«
Ein lang gezogenes »Ahhh« tönte mir entgegen. »Darum geht es also. Ja, das hätte ich mir beinahe denken können.«
»Warum?«
Elenor Nelson hob die Schultern. Sie holte etwas aus und sagte: »Sie wissen, in welch einer Gegend unsere Schule liegt. Hier gibt es in einem großen Umkreis keine Abwechslung. Die Schülerinnen sind auf sich allein gestellt, sie müssen hier ihre Zeit verbringen, und das ist auch so gewollt. Denn wir haben uns den alten Traditionen des Lehrens verpflichtet. Wer hier unterrichtet wird, der muss lernen, und das wird ihm im Laufe seines Lebens sehr zugute kommen.«
»Das habe ich begriffen. Ich frage mich nur, warum die beiden Schülerinnen verschwunden sind und es scheinbar niemanden interessiert.«
»Dazu kann ich Ihnen etwas sagen, Mr. Sinclair. Nicht alle Schülerinnen sind bereit, unsere Philosophie mitzumachen. Einige schaffen es nicht, und deshalb brechen sie ab.«
»Das kann ich nachvollziehen. Aber ich rede nicht von einem Schulabbruch, sondern von einem Verschwinden der Mädchen. Sie sind nicht mehr aufzufinden und…«
»Damit haben wir hier nichts zu tun. Ich kann mir vorstellen, dass sie ihre Freiheit missbraucht haben.«
»Wieso?«
»Sie haben sich bis nach London durchgeschlagen und treiben sich
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