1588 - Die falsche Kette
Todesschrei der Bewohner von Voltry.
Nie hätte sie geglaubt, daß Cebu Jandavari oder ein anderer Angehöriger des linguidischen Volkes eines so entsetzlichen Akts der Zerstörung fähig sein könnte.
Keiner von uns könnte von selbst aufeine solche Idee kommen, überlegte sie. Es liegt offensichtlich an den Zellaktivatoren. Es muß ein fremder Einfluß von diesen Geräten ausgehen etwas, das unsere gesamte Denkweise verändert und unsere individuelle Realität total auf den Kopf stellt. Nur ein solcher Einfluß kann Cebu Jandavari dazu gebracht haben, auf so furchtbare Weise gegen alle Grundregeln der linguidischen Philosophie zu verstoßen.
Aber woher kam dieser Einfluß?
Von ES?
Oder von einer anderen, gegnerischen Macht, die nicht mit ES identisch war?
Vielleicht sogar von den oft zitierten Mächten des Chaos?
Waren die Linguiden schon jetzt, ohne es zu wissen, in Auseinandersetzungen zwischen kosmischen Mächten verwickelt, denen sie nicht gewachsen waren?
Worauf haben wir uns da bloß eingelassen! dachte Dorina Vaccer verzweifelt.
Ihr wurde schwindelig.
Sie mußte sich am Rand der Sitzmatte festhalten, um nicht einfach zur Seite zu kippen. Gleich darauf war ihr zumute, als würde sie in die Höhe gehoben.
Es war ein Gefühl, bei dem sich ihr der Magen umdrehte. Nie zuvor hatte sie sich so elend gefühlt.
Unvermittelt kam ihr der Befehl in den Sinn, den die Superintelligenz den vierzehn auserwählten Friedensstiftern bei deren Besuch auf der Kunstwelt Wanderer gegeben hatte: „KEHRT AN DEN ORT EURER GEBURT ZURÜCK!"
Als die Friedensstifter diesem Befehl gefolgt waren, hatten sie die Zellaktivatoren in den Zweigen ihrer Kima-Sträucher gefunden.
Vielleicht finde ich auf Taumond eine Antwort auf meine Fragen, dachte Dorina Vaccer.
4.
4.10.1173 NGZ Dorina Vaccer blieb lange Zeit zwischen den Felsen stehen.
Der Kima-Strauch war jetzt so groß, daß man ihn schon vom Tal aus erkennen konnte. Er füllte die gesamte Mulde zwischen den Steinen aus. Wenn er weiterhin in diesem Tempo wuchs, würde er binnen weniger Tage über den höchsten Punkt des Hügels hinausragen.
Dorina Vaccer erinnerte sich daran, daß sie in der letzten Zeit mehrfach hier, an derselben Stelle, gestanden hatte.
Sie hatte ihren Kima-Strauch bewundert und sich über sein plötzliches Wachstum gefreut.
Alle unsterblichen Friedensstifter hatten sich so verhalten.
Dorina Vaccer hatte geglaubt - und die anderen glaubten es offenbar immer noch -, daß das plötzliche, beschleunigte Wachstum der Kima-Sträucher ein positives Zeichen war.
Die Friedensstifter hatten die Größe der Sträucher mit einer Zunahme ihres Kimas gleichgesetzt.
Im Augenblick hegte Dorina Vaccer einen ganz anderen Verdacht, Sie befürchtete, daß das übermäßige Wachstum der Sträucher auf eine Entartung zurückzuführen war.
Auf dieselbe Entartung, der auch die Friedensstifter zum Opfer zu fallen drohten. „Was hat man dir angetan?" fragte die Linguidin entsetzt. „Wer ist dafür verantwortlich? Ist es meine Schuld?"
Der Kima-Strauch stand als halbkugeliges Gebilde zwischen den Felsen. Er wirkte monströs und erdrückend.
Keine andere Pflanze konnte jetzt noch unter seinen ausladenden Ästen gedeihen.
Einst hatte er einen ästhetischen Habitus gehabt: einen kurzen, kräftigen Stamm, darüber eine lockere, wunderbar symmetrisch geformte Krone.
Jetzt präsentierte sich der Strauch als ein wirrer Klumpen von Ästen und Zweigen, die so dicht miteinander verflochten waren, daß es Dorina Vaccer unmöglich war, den eigentlichen, in der Mitte dieses Gebildes befindlichen Stamm zu sehen.
Und dieses ganze unglaubliche Gewächs war voller Blüten.
Auch die Blüten wirkten monströs. Sie waren zu groß und zu zahlreich. An den Enden der Zweige saßen sie so dicht beieinander, daß sie nicht einmal genug Platz hatten, sich zu entfalten.
Sie erdrückten einander regelrecht.
Diesem Strauch sind jedes Maß und jede Harmonie abhanden gekommen, dachte Dorina Vaccer bestürzt. Wenn diese Pflanze wirklich ein Spiegel meiner Psyche ist, dann muß man zwangsläufig zu dem Schluß kommen, daß irgend etwas mit mir nicht stimmen kann.
Sie hatte oft hier auf dem Felsen gesessen und ihren Kima-Strauch angesehen.
Sie hatte ihn berührt, sogar mit ihm gesprochen.
Aber diesmal war ihr nicht danach zumute.
Er ist krank, sagte sie sich. Er kann mir diesmal nicht helfen. Er braucht selbst Hilfe.
Aber wie konnte sie ihrem Kima-Strauch helfen, wenn sie nicht
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