1592 - Der Tiermensch
mühsam den Kopf, damit er in den Spiegel schauen konnte.
Dann sah er sich!
Er stellte fest, dass er seine Kleidung nicht völlig vom Körper gerissen hatte. Sie hatte nur einige Löcher. Aber dann ließ er seinen Blick höher gleiten und konzentrierte sich auf sein Gesicht.
Nein, da gab es keine Wolfsschnauze!
Und doch hatte es sich verändert.
Er selbst würde sich nicht mehr als einen Menschen bezeichnen, das war er nur noch zur Hälfte.
Und die andere?
Ein Tier!
Ja, er war zu einem Tiermenschen geworden.
Das waren keine Haare mehr, die seinen Kopf umwucherten. Das war einfach nur Fell, das auch den größten Teil des Gesichts einnahm. An der rechten Seite war es dichter als an der linken. Es wuchs bereits auf der Hälfte der Nase, hatte einen dichten Bart gebildet und nur den Mund freigelassen.
An der linken Seite sah die Haut noch normal aus, doch an der rechten war sie gar nicht mehr zu sehen. Das Fell hatte sie überwuchert und nur Platz für das Auge gelassen, in das er starrte.
Das zweite interessierte ihn nicht, denn er hatte schon beim ersten Blick die Veränderung erkannt. Dieses Auge, diese Pupille hatte eine ganz andere Farbe. Sie war schwarz geworden. Ja, sie bestand nur noch aus einem dunklen Punkt.
Das linke Auge hatte sein normales Aussehen noch nicht verloren, als wollte es beweisen, dass noch etwas Menschliches in ihm steckte und er zu einer Mischung aus Mensch und Tier geworden war.
Er starrte sein Spiegelbild an. Er sah alles sehr deutlich, und erst jetzt kam ihm die gesamte Tragweite seiner Veränderung zu Bewusstsein.
Die Reaktion erfolgte auf dem Fuß.
Er schrie wie noch nie in seinem Leben!
***
Es war kalt. Noch kälter als bei ihrem ersten Flug. Die Kälte biss in ihre Haut und wurde ihr vom Wind entgegen getragen.
Sie zog den Schal höher und sorgte so dafür, dass Mund und Nase geschützt waren.
Sie flog weiter. Die Bewegungen ihrer Flügel waren genau abgestimmt.
Sie wollte nicht an Höhe gewinnen und auch nicht verlieren. Sie flog in Höhe der Baumwipfel, aber nicht über sie hinweg, sondern folgte der Straße, die später parallel zum Wald verlauf en würde.
Sie dachte plötzlich an den Sommer und an ihre tollen Ausflüge in einer lauen Nacht. Das liebte sie am meisten, aber sie konnte die warmen Temperaturen nicht herbeizaubern, und so wurde sie bis zu ihrem Ziel vom eiskalten Wind begleitet.
Das Försterhaus sah sie noch nicht. Dafür den einsamen Lichtfleck, der in der Dunkelheit schimmerte. Da kein Dunst die Sicht beeinträchtigte, erkannte sie, dass dieses Licht eine rechteckige Form hatte, die auf ein erleuchtetes Fenster schließen ließ. Und das an der Vorderseite des Hauses.
Für Carlotta war es wie ein Wink des Schicksals und die Bestätigung, dass sich jemand im Haus befand.
Noah Lynch war schon da.
Den Beweis erhielt sie nicht mal eine Minute später, als sie den Wagen vor dem Haus stehen sah. Sofort sank sie nach unten und nutzte seine Deckung aus, um zu landen.
Mit beiden Füßen stand sie auf dem Boden und atmete zunächst tief durch.
Geschafft!
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, das erst aufhörte zu brennen, als sie die kalte Haut massierte.
Sie blieb weiterhin vorsichtig. Leicht geduckt stand sie da und schaute sich um. Ein verräterisches Geräusch war nicht zu hören. Es herrschte die übliche Stille der Nacht, der sie allerdings nicht so recht traute.
Sie drehte den Kopf etwas nach links und konzentrierte sich auf das helle Viereck. Zwei Farben verteilten sich darin. Ein rotes Schimmern mischte sich in das Gelb des künstlichen Lichts, aber sie sah keinen Schatten, der sich bewegt hätte.
Ein letzter Rundblick ließ sie zufrieden nicken. Sie sah keinen Menschen in der Nähe, der sie beobachtet hätte. Und so schlich sie auf das Haus zu.
Carlotta hatte nur wenige Schritte zu gehen und erkannte jetzt, dass dieses Fenster so hoch lag, dass sie nur hindurchschauen konnte, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Eine größere Höhe wäre jedoch auch nicht tragisch gewesen, dann hätte sie eben in der Luft geschwebt.
Der letzte Schritt. Sie sah eine Fensterbank, auf der sich das Moos regelrecht festgekrallt hatte. Ein kurzes Recken, und sie schaute in ein Bad, dessen Fenster eine klare Scheibe hatte, sodass nichts ihren Blick behinderte.
Ein viereckiger Raum, der…
Ihre Gedanken stockten.
Sie sah die Badewanne und deren Rand.
Auf ihm saß Noah Lynch. Er war es, obwohl er grauenhaft verändert aussah…
***
Morgana
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