1593 - Der Hexentöter
Satz hatte Gilda Green nicht vergessen. Er war für sie so etwas wie ein Motto geworden.
Als sie auf die Uhr schaute, erkannte sie, dass die Pause nur mehr zehn Minuten dauerte. Sie hatte sich zu intensiv mit den Gedanken an Assunga beschäftigt und nicht darauf geachtet, wie schnell die Zeit verging. Dabei musste sie noch zur Toilette.
Gilda Green hielt sich nicht allein im Pausenraum auf. An einem Tisch saßen vier Kolleginnen und unterhielten sich kichernd. Ihr Thema waren die Männer, die Gilda nicht interessierten. Außerdem waren ihr die Kolleginnen zu albern. Sie lachten über Dinge, über die es eigentlich nichts zu lachen gab. Und so war sie unter den Kolleginnen ziemlich isoliert, obwohl sie zu allen freundlich war.
Die Tüte mit dem Gebäck war leer. Gilda warf sie in einen Papierkorb und öffnete die Tür zum Waschraum, dessen Wände mit hellen Kacheln bedeckt waren.
Auch die Türen zu den Toiletten waren weiß gestrichen. Es gab insgesamt drei. Gilda zog die mittlere auf und verschwand in der Kabine, die sie nach knapp drei Minuten wieder verließ und auf eines der drei Waschbecken zuging. Der mit flüssiger Seife gefüllte Schwenker stand an der linken Seite. Sie kippte ihn und ließ die Seife auf ihre linke Handfläche tropfen. Dabei sah sie ihr Gesicht im Spiegel und stellte fest, dass sie sich etwas nachschminken musste. Wenn sie zu normal aussah, gab es Probleme mit der Chefin.
Das Wasser ließ sie laufen, nachdem sie ihre Hände mit der Seife eingerieben hatte. In fünf Minuten war die Pausenzeit vorbei, und es machte ihr alles andere als Spaß, wieder zurück an ihren Arbeitsplatz zu gehen. Gilda konnte nur hoffen, dass die Arbeitszeit schnell vorbeiging.
Noch während das lauwarme Wasser über ihre Hände lief, stutzte sie.
Etwas war anders geworden. Das hatte nichts mit ihrer Umgebung zu tun, sondern mit dem, was in ihrem Kopf geschah.
Da war eine Stimme zu hören!
»Da bist du ja!«
Gilda zuckte zusammen. Sie schaute in den Spiegel, um zu sehen, ob jemand hinter ihr stand. Das war nicht der Fall. Sie befand sich allein im Waschraum. Daran änderte sich auch in den folgenden Sekunden nichts.
Sie trat vom Waschtisch weg und drehte sich dem Handtuchspender zu, in dem sich die Papiertücher stapelten. Sie zog zwei hervor und trocknete sich die Hände.
Sie war so in diese Tätigkeit vertieft, dass sie die seltsame Stimme schon wieder vergessen hatte. Nahezu brutal wurde sie wieder daran erinnert.
»Jetzt kannst du mir nicht mehr entkommen!«
Sie schrie leise auf und trat einen Schritt zurück. Dabei stieß sie mit der Schulter gegen den an der Wand hängenden Handtuchspender. Dann blieb sie stehen und schaute sich um.
Es war niemand zu sehen. Nach ihr hatte keine der Kolleginnen den Waschraum betreten. Dass sie trotzdem eine Stimme gehört hatte, begriff sie nicht.
Auf der Stelle drehte sie ihre langsamen Kreise und entdeckte nichts. Sie war und blieb allein. Sie hörte nur das Klopfen ihres eigenen Herzens und merkte zudem, dass ihr das Blut in den Kopf stieg.
Ihr wurde unheimlich zumute. Plötzlieh sah sie das kalte Licht als eine Bedrohung an. Obwohl sich niemand hier versteckt hatte, glaubte sie daran, heimlich beobachtet zu werden.
Gilda blieb nicht länger stehen. Sie ging auf die Kabinen zu und zog die Türen der Reihe nach auf. Auch diejenige, die zu der Kabine gehörte, die von ihr benutzt worden war.
Sie waren alle leer.
»Ich bin doch nicht verrückt!«, flüsterte sie und bewegte sich wieder rückwärts auf die Waschbecken und die Spiegel zu.
Sie hatte sie noch nicht erreicht, da hörte sie die Stimme zum dritten Mal.
»Hallo, Hexe!«
Diesmal war der Schrei lauter, der sich aus ihrer Kehle löste. Zudem hatte Gilda den Eindruck, einen innerlichen Stromschlag erhalten zu haben.
Ihr war bekannt, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die sich nicht so leicht erklären ließen. Davon profitierte sie selbst, aber die Geisterstimme, die hier im Waschraum in ihrem Kopf entstanden war, hatte sie noch nie zuvor gehört.
Sie drehte sich auf der Stelle und schaffte es sogar, eine Frage ins Leere zu schicken.
»Wo bist du?«
»In deiner Nähe, Hexe.«
Fast automatisch sprach sie weiter. »Dann - dann zeig dich doch, verdammt.«
»Du wirst mich noch früh genug zu Gesicht bekommen, und dann ist es nicht mehr weit bis zu deinem Tod.«
Es waren Sätze, die sie schwer erschütterten. Sie wusste nicht mehr, was sie noch sagen sollte, und war nur froh, dass sich ein
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