1595 - Die sterbenden Engel
verließ den Raum.
Suko und ich blieben noch. Wir starrten den leeren Seziertisch an. Es war kaum zu fassen, dass noch vor zehn Minuten der Körper einer toten Frau darauf gelegen hatte.
»John, das ist kein normaler Mensch gewesen. Oder keine normale Frau. Das war etwas anderes, und ich habe dir gesagt, woran ich dabei denke.«
»Ja, an einen Engel.«
»Richtig. An einen toten Engel. Und jetzt wäre es ungeheuer wichtig, danach zu fragen, wer diesen Engel getötet hat. Immer vorausgesetzt, dass es einer ist.«
»Vielleicht hat er sich auf der Flucht befunden«, murmelte ich. »Ja, er war auf der Flucht und hat Hilfe gesucht. Und das im Fahrerhaus eines Lastwagens.«
»Das war wohl mehr ein Versteck. Oder der Ort, an dem er endgültig gestorben ist. Wer so etwas tut, der muss schon sehr verzweifelt gewesen sein.«
»Kann sein, Suko. Und ich befürchte, dass es nicht das einzige Wesen ist, das Furcht hat.«
»Denkst du an deinen Besuch in der vergangenen Nacht?«
»Klar. Er war nur kein richtiger Besuch. Das ist alles eine Theorie, wenn wir die beiden Ereignisse in einem Zusammenhang sehen. Aber ausgeschlossen ist es nicht.«
»Also Engel auf der Flucht?«
»Kann man so sagen - theoretisch.«
»Und vor wem?«, fragte Suko.
Ich lachte. »Genau das ist die Frage. Ich weiß nicht, vor wem sie auf der Flucht sein könnten. Engel habe natürlich Feinde«, gab ich zu. »Sogar untereinander. Aber auch die Mächte der Finsternis sind nicht eben Freunde von ihnen.«
Suko schaute mich mit einem skeptischen Blick an. »Kann sein, muss aber nicht sein.«
»Egal wie. Wenn du recht hast, dann wird sich die andere Seite bei mir melden.«
»Oder die Engel?«
»Wer auch immer.« Es war mein abschließender Satz. Ich wollte nicht länger in diesem Raum bleiben. Es war wirklich keine Umgebung, in der ich mich wohl fühlen konnte.
Wir hatten damit gerechnet, dass sich Dr. Sexton zurückgezogen hatte.
Das war nicht der Fall. Er hatte sein Büro nicht verlassen. Er hockte hinter seinem Schreibtisch. Mit dem Stuhl war er zurückgefahren, und in der Hand hielt er eine Flasche mit einer hellen Flüssigkeit. Wasser war es ganz bestimmt nicht, denn uns wehte das Aroma von Himbeeren in die Nasen.
»Wenn nichts mehr echt ist«, sagte Dr. Sexton mit einer schon leicht schweren Stimme, »der Himbeergeist ist es. Cheers.« Er hob die Flasche an und führte sie an den Mund. Dann nahm er einen kräftigen Schluck, schaute uns an und sagte: »Stimmt doch - oder?«
»Ja, das kann man so sagen.« Ich grinste. »Aber geben Sie acht, dass Sie nicht die Engel singen hören.«
»Keine Sorge. Ich halte mich an die Geister, die hier in den flüssigen Himbeeren stecken.«
Sollte er. Es würde ihm sicherlich gut tun.
Vor uns aber lag eine andere Aufgabe. Die hatte mit einem Himbeergeist nichts zu tun, sondern mehr mit richtigen Geistern…
***
Glenda Perkins schaute uns schon etwas erstaunt an, als wir ihr Büro betraten.
»Wie seht ihr denn aus?«
»Wieso?«
Sie grinste mich an. »Als wäre euch die Suppe verhagelt worden. So sehen nur Leute aus, die eine Niederlage erlitten haben. Oder sehe ich das falsch?«
»Nein, das siehst du nicht.«
»Und was ist passiert?«
Glenda Perkins war unsere Vertraute. Wir brauchten bei ihr kein Blatt vor den Mund zu nehmen. So erfuhr sie in knappen Sätzen von unserem Erlebnis.
»Oh, das ist ein Hammer.« Auch Glenda war geschockt und musste sich setzen. »Das Verschwinden erinnert mich daran, wie ich mich zurückgezogen habe. Aber bei mir ist es das Serum, durch das ich mich wegbeamen kann - wie letztlich in dem Waschraum.«
»Das ist ein Unterschied«, sagte ich. »Diese Frau war offensichtlich tot. Zumindest vom medizinischen Standpunkt her. Aber inzwischen bin ich davon überzeugt, dass wir es nicht mit einem Menschen zu tun hatten. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um einen Engel gehandelt haben könnte. Wir werden es noch genau herausfinden müssen.«
Glenda musste erst mal nachdenken.
»Und wer tötet Engel?«, flüsterte sie dann.
»Das ist die große Frage. Vorausgesetzt, diese Person ist ein Engel gewesen.«
»Aber ohne Flügel - oder?«
»Du sagst es, Glenda.«
Suko und ich hatten eigentlich vorgehabt, Sir James einen Besuch abzustatten. Den konnten wir uns sparen, denn hinter uns wurde die Bürotür geöffnet, und Sir James trat ein. Wie immer trug er seinen grauen Anzug, dazu das weiße Hemd und eine dezent gestreifte Krawatte.
Er rückte seine Brille zurecht und warf
Weitere Kostenlose Bücher