1595 - Die sterbenden Engel
für Kinder recht nett sein, aber nicht für einen Menschen wie mich.« Er hob beide Hände.
»Aber ich lasse mich gern belehren, auch wenn Engel für mich, wenn überhaupt, irgendwie feinstofflich sind.«
»Da haben Sie nicht unrecht. Aber ich versichere Ihnen, dass es auch andere Engel gibt, die sich mehr dem Menschen angenähert haben.« Ich winkte ab. »Aber das ist ein zu weites Feld, um es in ein paar Minuten erörtern zu können.«
»Gut. Was haben Sie dann vor?«
»Wir kümmern uns um die Tote.«
Dr. Sexton lachte. »Da bin ich mal gespannt, ob Sie etwas anderes herausfinden als ich.«
»Schauen Sie ruhig zu.«
»Das lasse ich mir auch nicht entgehen.«
Suko und ich konnten ihn verstehen. Der gute Mann war an seine Grenzen gelangt und war jetzt gespannt darauf, ob diese sogar noch überschritten werden konnten.
Wir kannten die Tote bereits von den Fotos her. Es ist doch etwas anderes, wenn man direkt vor dem Objekt steht und es aus der unmittelbaren Nähe betrachten kann.
Die Haut war wirklich von den Füßen bis zu den Haaren sehr hell. Das war nicht ungewöhnlich, denn zahlreiche Menschen sahen so aus. Die Farbe der Haut wurde nur dort unterbrochen, wo sich die Wunden abzeichneten.
Waren es tatsächlich Wunden? Befanden sich unter den rostbraunen Flecken auch Bissstellen oder auf andere Weise verursachte Wunden?
Jedenfalls war es nicht genau zu erkennen. Auch dann nicht, als wir uns recht tief gebückt hatten, um die Tote genau zu betrachten.
Ich drückte das Haar ein wenig zur Seite, um mir die Halswunde besser anschauen zu können. Es hätte die typische Hinterlassenschaft eines Vampirbisses sein können. Doch das traf nicht zu. Ich sah die Wunde sehr deutlich, und sie wies keine zwei Stellen auf, wo sich irgendwelche Zahnspitzen in die Haut gebohrt hätten.
Sie sah eher aus, als hätte ein Schnitt sie verursacht. Das ungewöhnliche Blut war dann sternförmig weggespritzt und hatte sich auf dem Hals verteilt.
Auch die anderen Wunden auf dem nackten Körper sahen aus wie Schnitte. Mir kam sogar in den Sinn, dass sie von einem Rasiermesser hätten stammen können.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Dr. Sexton uns beobachtete. Einen Kommentar gab er nicht ab.
Weder Suko noch ich hatten die fremde Gestalt bisher angefasst. Ich konnte mir den genauen Grund auch nicht denken. Es war einfach so.
Als wir genug gesehen hatten, standen wir uns gegenüber und schauten uns an.
»Was meinst du, John?«
Ich hob die Schultern. »Es ist schwer zu sagen. Sie sieht aus wie ein Mensch. Ob es eine normale Frau ist, weiß ich nicht, und sie hat keine Flügel. Du weißt, was ich damit andeuten will.«
»Klar.«
Meine Blicke tasteten über den Körper der nackten Gestalt. Die Tote war nicht zu dünn, auch nicht zu dick. Man konnte von einer Figur mit guten Rundungen sprechen. Nur die Brüste waren recht klein, was eigentlich nicht zu dem fast üppigen Hinterteil passte.
Das Gesicht zeigte ebenfalls keinen weichen und fraulichen Ausdruck.
So hätte auch ein Mann aussehen können, denn man konnte von einem recht harten Profil sprechen.
Möglicherweise war diese Person ein Zwitter. Eine Mischung aus Mann und Frau.
Ich fragte Suko mit leiser Stimme: »Du hast sie bisher nicht angefasst?«
»Ja.«
»Und warum nicht?«
Er musste lächeln. »Die Frage könnte ich dir auch stellen. Etwas hat mich davon abgehalten.«
Suko sprach mich danach auf ein bestimmtes Thema an. »Hat dein Kreuz reagiert?«
»Hat es nicht.« Ich lächelte. »Das könnte man als ein gutes Zeichen ansehen.«
»Das sehe ich auch so.«
Danach schwiegen wir beide, als hätten wir uns gegenseitig abgesprochen.
Nach wie vor lag die Gestalt wie eine Marmorfigur vor uns. Es tat sich nichts bei ihr. Weder am Kopf noch am übrigen Körper bewegte sich etwas. Hier musste man einfach von einer toten Person ausgehen, und dass wir sie beide nicht berührt hatten, war schon seltsam. Als hätte uns eine unsichtbare Macht davon abgehalten.
Es war auch seltsam, dass ich gedanklich wieder an die Vorgänge der vergangenen Nacht erinnert wurde. Da hatte ich zwar keine tote Frau gesehen, und trotzdem wollte dieses Ereignis nicht aus meinem Kopf.
Diesmal überwand ich mich. Ich legte meine rechte Hand flach auf den Leib der Toten und war auch bereit, sie sofort wieder anzuheben, was ich jedoch nicht brauchte.
Es passierte nichts. Keine Veränderung, und so konnte ich mich darauf konzentrieren, ob etwas mit dem Körper passierte.
Er war steif. Er war
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