16 Tante Dimity und das verhexte Haus (Aunt Dimity and the Family Tree)
hat er den Brief ganz einfach an ›Sally in Finch‹ adressiert– auch wenn er mich immer Lady Sarah genannt hat, weil er fand, dass es sich so gehöre. Ach, er ist halt ein richtiger Gentleman!«
Ein erneuter Tränenstrom folgte, der jedoch rasch wieder versiegte.
» Wie gesagt«, fuhr Sally fort und warf ein weiteres Knäuel feuchter Taschentücher in den Papierkorb, » habe ich heute Morgen einen Brief von Henrique bekommen. Er ist vor einer Woche in England eingetroffen. Er reist durchs Land und würde auf seinem Weg nach Stratford gern drei Tage auf Fairworth verbringen.« Sie keuchte auf. » Er wird am Montag hier sein!«
» Also bleibt Ihnen ein Tag Zeit, um sich für seine Ankunft vorzubereiten«, bemerkte Willis senior.
» Wie, um Himmels willen, kann ich mich auf seine Ankunft vorbereiten?«, jammerte Sally. » Henrique glaubt, ich sei eine Lady, die in einem Herrenhaus lebt. Was wird er von mir denken, wenn er herausfindet, wer ich wirklich bin?«
» Vielleicht wird er entzückt sein«, sagte Willis senior.
» Machen Sie sich nicht lustig über mich«, sagte Sally und schüttelte traurig den Kopf. » Er wird denken, dass ich eine dicke, fette Lügnerin bin, und das bin ich auch. Schlimmer noch, er wird denken, ich sei auf sein Geld aus, aber das stimmt nicht. Ich bin vielleicht keine reiche Lady, aber eine arme Kirchenmaus, die das nötig hätte, bin ich auch nicht.«
» Natürlich nicht«, murmelte Willis senior.
» Der Gedanke, dass Henrique schlecht von mir denkt, ist mir unerträglich.« Sally knetete ihre Hände im Schoß. » Ich habe es nicht anders verdient. Aber wenn sich meine kleine… Maskerade in Finch herumspricht, werde ich den Menschen nie wieder ins Gesicht schauen können. Ich werde mich zum Gespött der Leute machen, William. Bis zum Ende meiner Tage werde ich die Zielscheibe ihres Spotts sein. Peggy Taxman wird dafür sorgen, dass keiner hier es je vergisst. Ich werde für immer und ewig die dumme Sally bleiben, die lächerliche Frau, die sich mit fremden Federn geschmückt und ihre Herkunft verheimlicht hat.« Wieder schluchzte sie auf und blinzelte gegen einen neuerlichen Schwall Tränen an. » Ich weiß, wie dumm es von mir war, William, aber ich werde es nicht ertragen, wenn alle Welt davon erfährt.« Sie schluckte schwer. » Dann werde ich keine andere Wahl haben, als Finch zu verlassen.«
Ein bedeutungsvolles Schweigen trat ein. Mein Blick wanderte zwischen Sally und meinem Schwiegervater hin und her. Ich hatte keine Ahnung, was als Nächstes passieren würde. Die Spannung war köstlich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ergriff Willis senior das Wort. » Das dürfen wir unter keinen Umständen zulassen.«
Sally schlug sich eine Hand vor den Mund und sah Willis senior flehend an, als wäre er ihre allerletzte Hoffnung.
» Es wäre ein herber Verlust für Finch, wenn es auf Ihre köstlichen Marmeladen-Doughnuts verzichten müsste und auf Ihre Nähkünste und Ihre überschäumende Persönlichkeit, Mrs Pyne.« Willis senior lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, spreizte die Finger vor seiner makellosen Weste und legte die Fingerspitzen aneinander. » Überlassen Sie es mir, mich um das Problem zu kümmern. Ich werde Sie kontaktieren, sobald ich zu einer zufriedenstellenden Lösung gelangt bin. In der Zwischenzeit bleiben Sie bitte incommunicado.«
Sally blinzelte verständnislos.
» Sie sind krank, Mrs Pyne«, rief Willis senior ihr ins Gedächtnis. » Und zwar so krank, dass Sie keine Besucher empfangen können. Also bleiben Sie bitte bei zugezogenen Vorhängen in Ihrem Zimmer, bis ich Sie anrufe. Haben Sie mich verstanden?«
Sally nickte eifrig. » Ich werde unsichtbar bleiben. Rainey wird jedem erzählen, dass es mir hundeelend geht.«
» Eine Enkelin kann in Krisenzeiten tatsächlich eine große Hilfe sein.« Willis senior blickte auf seine Taschenuhr. » Ich denke, so weit haben wir alles besprochen, Mrs Pyne. Bitte erlauben Sie meinem Sohn, dass er Sie nach Hause fährt.«
» Nein, danke«, sagte Sally und stand schnell auf. » Ich gehe zu Fuß am Fluss entlang, so wie ich gekommen bin. Ein Mensch macht weniger Geräusche als zwei Menschen.«
» Wenn es so ist, wünsche ich Ihnen eine gute Nacht. Und sehen Sie zu, dass Sie ein bisschen Schlaf bekommen, Mrs Pyne. Ich werde mich bei Ihnen melden. Lori? Würdest du unseren Gast bitte hinausbegleiten?«
» Nicht nötig.« Sally machte eine Geste in Richtung der nächstgelegenen Verandatür. » Ich gehe durch den
Weitere Kostenlose Bücher