16 Tante Dimity und das verhexte Haus (Aunt Dimity and the Family Tree)
vertiefte sich ihre Freundschaft im Lauf der Jahre noch, indem sie Hunderte von Briefen über den Atlantik schickten. Für meine Mutter war diese Korrespondenz so etwas wie ihr privates Heiligtum, ein friedliches Refugium von den Mühen des Alltags und der schwierigen Aufgabe, ihre Tochter allein großzuziehen, nachdem mein Vater viel zu früh und unverhofft gestorben war. Dieses Heiligtum bedeutete ihr so viel, dass sie es vor jedem verbarg, einschließlich mir. Als Kind kannte ich Dimity Westwood nur als Tante Dimity, die respektgebietende Heldin einer Serie von Gutenachtgeschichten, die der lebhaften Fantasie meiner Mutter entsprungen waren.
Erst als sowohl meine Mutter als auch Dimity Westwood gestorben waren, erfuhr ich von Dimitys Existenz. Die englische Freundin meiner Mutter hinterließ mir ein beträchtliches Erbe und das honigfarbene Cottage, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, die Briefe, die sie und meine Mutter einander geschrieben hatten, und ein merkwürdiges Buch– ein in blaues Leder gebundenes Notizbuch.
Erst durch dieses blaue Notizbuch lernte ich Dimity schließlich kennen. Wann immer ich es aufschlug, erschien ihre Handschrift auf den leeren Seiten, eine altmodische schnörkelreiche Schrift, wie sie vor siebzig Jahren in der Dorfschule gelehrt worden war, damals, als man ein Tintenfass noch als Gebrauchsgegenstand betrachtete und nicht als Dekorationsstück. Als ich das erste Mal die blauen Schleifen, Striche und Bögen über das Papier hatte gleiten sehen, war ich entsetzt gewesen und befürchtete, ich hätte unbeabsichtigt eine Art unheimlichen, fordernden Geist heraufbeschworen, der von nun an zu den unmöglichsten Gelegenheiten auftauchen würde, um kettenrasselnd und heulend durchs Haus zu geistern.
Ich hätte mich nicht gründlicher irren können. Tante Dimity erwies sich bald als weise, wohlwollende Seele, die für das Kind ihrer besten Freundin nur das Beste wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie sie diesen Zaubertrick bewerkstelligte, aber indem sie aus dem Jenseits Kontakt mit mir aufnahm, bewies sie mir ihre Liebe und auch, dass Liebe in der Tat alles Mögliche bewerkstelligen konnte. Ein Leben ohne Dimity konnte ich mir nicht mehr vorstellen.
Ich legte das Buch in meinen Schoß und schlug es auf. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, begann sich die vertraute königsblaue Schrift auf der Seite in großen, aufgeregten Bögen zu entfalten.
Ihr seid aber spät zurückgekommen, Lori. Kann ich also davon ausgehen, dass Williams Party rundherum gelungen ist, so wie Du es Dir erhofft hast?
» Es war ein voller Erfolg«, erwiderte ich. » Trotz aller Hindernisse, sollte ich hinzufügen. Heute Morgen habe ich erfahren, dass das komplette Catering-Team von einer Lebensmittelvergiftung heimgesucht wurde, aber die Dorfbewohner sind mir zu Hilfe geeilt.«
Ich kann mir vorstellen, dass sich die eine oder andere besonders beeilt hat. Ist es Dir gelungen, William die allzu eifrigen Mägde vom Leib zu halten?
Ich lachte. » Du kennst Finch zu gut, Dimity. Die lieben Frauen haben hinter meinem Rücken versucht, William zu überfallen, aber Lilian und Emma haben sie im Zaum gehalten.«
Ein dreifaches Hoch auf Lilian und Emma! Schade nur, dass die beiden nicht immer zur Stelle sind, um William vor seinen übereifrigen Bewunderinnen zu beschützen. Ich fürchte, nun, da er allein wohnt, wird er fortwährend von ihnen heimgesucht werden.
» Aber er ist nicht mehr allein«, sagte ich. » Er hat jetzt die Donovans, die ihn vor unliebsamen Störungen bewahren werden.«
Darf ich fragen, wer die Donovans sind? Ich erinnere mich an keine Familie dieses Namens aus Finch.
» Deirdre und Declan Donovan stammen nicht aus Finch. Ich weiß nicht genau, woher sie sind, jedenfalls sind sie heute Nacht angekommen, um sich bei William vorzustellen, und er hat sie sofort angeheuert. Sie übernachten bereits in Fairworth House.«
Und – sind sie … geeignet?
» William ist jedenfalls davon überzeugt. Ich weiß nicht so recht, was ich von ihnen halten soll. Ich finde, er hat seine Entscheidung ein wenig überstürzt getroffen.«
Ich wusste gar nicht, dass William so impulsiv ist.
» Ich auch nicht. Aber ich habe ihn bislang auch noch nie von Schafen reden hören.«
Von Schafen?
» Ja, von Schafen. William hat mir heute Morgen erzählt, dass er erwägt, sich eine Schafherde von einer vom Aussterben bedrohten Schafsrasse zuzulegen.«
Wenn er genügend Weideland hat, um eine Schafherde zu ernähren,
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