16 Tante Dimity und das verhexte Haus (Aunt Dimity and the Family Tree)
sich vor dem Ruhestand, Lori. Sie haben keine Erfahrung damit, ihre Freizeit zu genießen, und verabscheuen die Vorstellung, sinnlosen Hobbys nachzugehen. Stattdessen verlegen sie sich lieber auf Aktivitäten, die dazu angetan sind, ihre Fantasie anzuregen und ihren Geist in Schwung zu halten. Nachdem er sein großes Projekt abgeschlossen hat – nämlich die Restaurierung von Fairworth House …
» Fairworth House ist noch längst nicht fertig«, warf ich ein. » In Sachen Landschaftsbau gibt es noch viel zu tun, außerdem müssen die verfallenen Nebengebäude wieder aufgebaut werden.«
Landschaftsbau und Restaurierungsarbeiten sind durchaus anspruchsvolle Aufgaben, aber sie können nicht den Nervenkitzel ersetzen, den menschliche Dramen mit sich bringen. William ist und bleibt Anwalt, Lori. Er liebt es, sich geistig mit jemandem zu messen.
» Er hat für reiche Leute das Testament verfasst und die Vermögensnachfolge geplant«, sagte ich. » Was hat das mit geistigem Kräftemessen zu tun?«
Mehr, als Du denkst. Vor allem wenn man es mit reizbaren und anstrengenden Mandanten zu tun hat. Aber um meinen Faden wiederaufzunehmen … Nachdem Williams großes Projekt nahezu abgeschlossen war, hat er ein neues gesucht. Ein glücklicher Zufall hat ihm Sally in ihrer misslichen Lage wie auf dem Silberteller präsentiert. Ist es da verwunderlich, dass er, ohne mit der Wimper zu zucken, in die Rolle von Sarah Pynes amerikanischem Cousin schlüpft? Was könnte für ihn verlockender sein, als ein ganzes Dorf hinters Licht zu führen, ganz zu schweigen von dem ahnungslosen Señor Cocinero?
» William amüsiert sich«, sagte ich, während es mir allmählich dämmerte. » Deswegen pfeift er neuerdings.«
Endlich ist der Groschen bei Dir gefallen, Lori. William amüsiert sich köstlich, während er meinen ursprünglichen Plan weiterentwickelt und in die Tat umsetzt, um dafür zu sorgen, dass Sallys Ruf gewahrt wird. Ich nehme an, diese Aufgabe reizt ihn einerseits, weil sie neu für ihn ist, und andererseits aufgrund ihrer Komplexität. Es ist etwas völlig anderes als das, was er in seinem Berufsleben getan hat.
» Und wie erklärst du dir seinen plötzlichen Schaf-Spleen?«
Ich würde es nicht Spleen nennen. William plant einfach nur seine Zukunft. Vergiss nicht, Lori, dass Señor Cocinero am Mittwoch wieder abreist. Sobald die große Farce zu Ende ist, wird William sich seinem Schafprojekt zuwenden.
» Aber Schafe haben nichts mit einem aufregenden menschlichen Drama zu tun«, warf ich ein. » Wenn das stimmt, was du sagst, Dimity, wird das Schafprojekt William kaum ausfüllen können.« Ich stöhnte leise auf. » Werde ich meinen Schwiegervater von nun an mit immer neuen menschlichen Dramen versorgen müssen, damit er glücklich ist?«
Das wird wohl nicht nötig sein. Die Dorfbewohner – allen voran die emsigen Mägde – sind durchaus in der Lage, William mit den nötigen Dramen zu versorgen.
Ich lachte. » Da kann ich dir nicht widersprechen, Dimity. Das Leben in Finch ist voller Dramen.« Ich warf einen Blick auf das in ein Tuch gewickelte Bild, das Bill ins Arbeitszimmer gestellt hatte. » Das Leben in Fairworth House wird auch immer interessanter, und zwar nicht nur wegen der großen Verwechslungskomödie. Möglicherweise hat jemand den Messingkompass aus dem Billardzimmer gestohlen.«
Den Kompass, den Du im alten Stall entdeckt hast?
» Genau.«
Hast Du die Zwillinge gefragt, ob sie wissen, wo er ist?
» Du verdächtigst meine Söhne des Diebstahls?«, fragte ich mit gespielter Empörung.
Sei nicht albern, Lori. Siebenjährige Jungen bestehlen ihren Großvater nicht. Sie borgen sich allenfalls einen Gegenstand. Der Messingkompass ist jedenfalls ein Gegenstand, der zwei kleine, unermüdliche Forscher wie Will und Rob faszinieren könnte. An Deiner Stelle würde ich sie morgen Früh danach fragen.
» Ich warte damit, bis ich wieder mit William gesprochen habe. Er meinte, dass Deirdre Donovan, die Schutzheilige aller Haushälterinnen, ihn womöglich in die Küche mitgenommen haben könnte, um ihn zu reinigen. Auch wenn mir schleierhaft ist, warum«, fügte ich hinzu. » Ich habe ihn nämlich erst letzte Woche poliert, und als ich ihn gestern Abend gesehen habe, war er noch tadellos sauber und glänzte. Aber ich nehme mal an, dass sich meine Ansprüche mit denen einer perfekten Haushälterin nicht messen lassen können.«
Kann es sein, dass ich einen leicht verdrießlichen Unterton in Deiner Stimme
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