16 Tante Dimity und das verhexte Haus (Aunt Dimity and the Family Tree)
kennen Sally doch gar nicht. Sie war während der Renovierung des Hauses nie in Fairworth, und sie sind wiederum nie in der Teestube gewesen. Soweit ich mich erinnere, sind sie durch Finch durchgebraust, ohne je anzuhalten, um ja jeglichen Zusammenstoß mit den emsigen Mägden zu vermeiden.«
» Ich wünschte, du würdest auf diese Bezeichnung verzichten«, sagte Willis senior und machte eine missbilligende Miene. » Mir ist zwar klar, dass ihr beide, du und Bill, sie amüsant findet, aber in meinen Augen ist sie unfreundlich und unangebracht.«
» Tut mir leid, aber was ich sagen wollte…«
» Ich weiß, was du sagen wolltest«, fiel mir Willis senior ins Wort, » aber ich stimme nicht mit dir überein. Die Handwerker könnten heute nach Beendigung ihrer Arbeit wider bessere Einsicht auf die Idee kommen, den hiesigen Pub zu besuchen. Es würde unserer Sache nicht dienlich sein, wenn Mr und Mrs Peacock mitbekämen, wie die Männer über Lady Sarah und Señor Cocinero Witze reißen.«
Er schüttelte den Kopf. » Dieses Risiko bin ich nicht bereit einzugehen.«
» Und was soll ich nun tun?«, fragte ich.
» Bitte sorg dafür, dass meine Gäste nicht in Kontakt mit den Handwerkern kommen«, antwortete er gereizt. » Ich kann schließlich nicht überall gleichzeitig sein.«
» Das musst du auch nicht«, sagte ich besänftigend. » Jetzt bin ich ja da.«
» Danke, Lori.« Er atmete tief durch. » Ich verlasse mich auch darauf, dass du Lady Sarah davon abhältst, meine sämtlichen irdischen Besitztümer herzuschenken.«
» Wovon redest du?«, fragte ich.
» Lady Sarah hat mich gebeten, ihr zu erlauben, Señor Cocinero eine der Schnupftabakdosen zu schenken, die wir vor Beginn der Renovierung im Stall gefunden haben. Ihr Wunsch, ihrem Freund ein Andenken mitzugeben, in allen Ehren, aber eine Schnupftabakdose aus Meissener Porzellan aus dem 18. Jahrhundert ist ein ziemlich teures Souvenir, würde ich meinen.«
» Ach, tatsächlich? Ich wusste gar nicht, dass die Schnupftabakdosen so wertvoll sind.«
» Die ganze Sammlung wurde auf zweihunderttausend Pfund geschätzt«, sagte Willis senior mit gesenkter Stimme. » Allein die Schnupftabakdose aus Meißen ist dreißigtausend Pfund wert.«
» Willst du mich auf den Arm nehmen?«, rief ich aus. » Du hast nie auch nur ein Wort…«
» Der Geldwert der Sammlung ist irrelevant«, unterbrach mich Willis senior. » Die Schnupftabakdosen sind Fragmente der Geschichte von Fairworth. Ich gedenke also nicht, mich aus einer Laune heraus von einem der Stücke zu trennen. Erst recht nicht, wenn es nicht meine eigene Laune ist. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss abermals versuchen, mich dem Glaser verständlich zu machen.«
Willis senior strich sich das Haar glatt, rückte den Krawattenknoten zurecht und ging mit nicht mehr ganz so hektischem Ausdruck wie zuvor in den Wintergarten zurück.
Ich stand mit offenem Mund da und starrte sprachlos vor mich hin. Wie, fragte ich mich, war eine Schnupftabakdosensammlung im Wert von zweihunderttausend Pfund in den Trümmern des alten Stalls gelandet? Und, eine weitaus wichtigere Frage drängte sich mir auf: Wie konnte Willis senior so leichtsinnig sein, sie in einer unverschlossenen Glasvitrine im Salon auszustellen?
Die Schnupftabakdosen hatte ich gar nicht in meine Inventarliste der wertvollen Gegenstände aufgenommen, hatte ich sie doch nur für wertlosen Tand gehalten. Eine Oxford-Absolventin mit einem Abschluss in Kunstgeschichte hingegen wusste es wahrscheinlich besser. Ehe ich mich ins Arbeitszimmer begab, nahm ich mir vor, noch an diesem Tag die Schnupftabakdosen zu zählen.
Sally und Henrique saßen an einem antiken, ausklappbaren Spieltisch, der normalerweise im Billardzimmer stand. Henrique trug ein locker sitzendes Musselinhemd, eine weiße Hose und Huaraches– mexikanische Ledersandalen.
Sally hatte glitzernde Flipflops und einen weiten fließenden Kaftan mit einer farbenfroh bestickten Frontpasse an. Wieder saß ein Diadem in ihrem Haar, und auf ihrem Dekolletee glitzerte der Schneeflocken-Anhänger.
» Lori!«, rief Henrique herzlich. » Wie hübsch Sie heute aussehen, ganz in Gelb, wie el botón de oro — eine Butterblume, heißt es, glaube ich, auf Englisch.«
» Danke, Henrique.« Ich strich mein Seidenkleid glatt und zog mir einen Stuhl heran. » Sie sehen auch gut aus. Wie steht’s?«
» Lady Sarah hat schon zwei Mal gewonnen«, erwiderte er und beugte sich zu Sally. » Sie ist die
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