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16 Uhr 50 ab Paddington

16 Uhr 50 ab Paddington

Titel: 16 Uhr 50 ab Paddington Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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ins Auge (der Zug befand sich auf einem ziemlich hohen Bahndamm). Sie sah zwischen der Landschaft draußen und der Landkarte drinnen hin und her, bis der Zug schließlich in Brackhampton einfuhr.
    Am Abend dieses Tages schrieb sie einen Brief an Miss Florence Hill, 4 Madison Road, Brackhampton, und warf ihn ein… Am nächsten Vormittag ging sie in die Grafschaftsbücherei und stellte Nachforschungen im Telefonbuch von Brackhampton sowie in einem Ortslexikon und einer Geschichte der Grafschaft an.
    Bisher war ihre noch sehr unausgereifte Hypothese unangefochten geblieben. Ihre Idee war denkbar. Weiter wollte sie einstweilen nicht gehen.
    Aber der nächste Schritt brachte Arbeit mit sich – viel Arbeit sogar – Arbeit, der sie körperlich nicht gewachsen war. Wenn sie ihre Hypothese belegen oder widerlegen wollte, brauchte sie Hilfe von außen. Bloß – von wem? Miss Marple ging verschiedene Namen und Möglichkeiten durch, verwarf sie jedoch alle mit ärgerlichem Kopfschütteln. Die Menschen, auf deren Intelligenz sie sich verlassen konnte, hatten alle viel zu viel zu tun. Nicht nur hatten sie alle Berufe unterschiedlicher Bedeutung, ihre Freizeit wurde meist auch lange im Voraus verplant. Und die Unintelligenten, die genug Zeit mitbrachten, waren einfach keine Hilfe, fand Miss Marple.
    Sie zermarterte sich zunehmend das Hirn.
    Plötzlich glättete sich ihre Stirn, und sie rief laut:
    «Natürlich! Lucy Eyelesbarrow!»

Viertes Kapitel
    I
     
    D er Name Lucy Eyelesbarrow war in gewissen Kreisen längst ein Begriff.
    Lucy Eyelesbarrow war zweiunddreißig Jahre alt. Sie hatte in Oxford Mathematik studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen, man attestierte ihr einen hervorragenden Verstand und ging stillschweigend davon aus, sie würde an der Universität Karriere machen.
    Lucy Eyelesbarrow war jedoch nicht nur eine hervorragende Wissenschaftlerin, sondern hatte auch eine anständige Portion gesunden Menschenverstand abbekommen. Es entging ihr keineswegs, dass ein hoher akademischer Rang nur kümmerlich vergütet wurde. Sie hatte nicht den geringsten Wunsch zu lehren, sondern genoss den Kontakt mit Geistern, die dem ihren nicht das Wasser reichen konnten. Kurz, sie hatte ein Faible für Menschen, für alle möglichen Menschen – und nicht immer die gleichen Menschen. Außerdem mochte sie, um der Wahrheit die Ehre zu geben, Geld. Um zu Geld zu kommen, musste man Mängel ausnutzen.
    Lucy Eyelesbarrow stieß sehr bald auf einen empfindlichen Mangel – den Mangel an ausgebildetem Hauspersonal. Zum Erstaunen ihrer Freunde und Forscherkollegen wurde Lucy Eyelesbarrow Hausangestellte.
    Sie hatte sofort durchschlagenden Erfolg. Inzwischen, nach einer Zeitspanne von einigen Jahren, kannte man sie landauf, landab auf den Britischen Inseln. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass Frauen fröhlich zu ihren Gatten sagten: «Es hat geklappt. Ich kann mit dir in die Staaten fahren. Ich habe Lucy Eyelesbarrow bekommen!» Das Besondere an Lucy Eyelesbarrow war, dass sie bloß in einem Haus aufzutauchen brauchte, und schon lösten sich Sorgen, Nöte und harte Arbeit in Wohlgefallen auf. Lucy Eyelesbarrow kümmerte sich um alles, tat alles, richtete alles. Sie war die Tüchtigkeit in Person. Sie sorgte für hinfällige Eltern, hütete kleine Kinder, pflegte Kranke, war eine göttliche Köchin, kam mit verknöcherten alten Dienern zurecht, falls es welche gab (meist gab es keine), war taktvoll im Umgang mit unmöglichen Leuten, beruhigte Gewohnheitstrinker und konnte wunderbar mit Hunden umgehen. Das Allerbeste aber war, dass sie sich für keine Arbeit zu schade war. Sie scheuerte den Küchenboden, grub den Garten um, beseitigte Hundedreck und schleppte Kohlen.
    Aus Prinzip ließ sie sich nie für längere Zeit anstellen. Vierzehn Tage waren die Regel – ein Monat das Höchstmaß. Die vierzehn Tage kosteten ein Vermögen! Aber während dieser vierzehn Tage lebte man wie im Paradies. Man konnte sich nach allen Regeln der Kunst entspannen, ins Ausland fahren, die Beine hochlegen, tun und lassen, was man wollte, stets konnte man beruhigt sein, weil an der Heimatfront in Lucy Eyelesbarrows fachkundigen Händen alles bestens aufgehoben war.
    Ihre Dienste waren natürlich ungeheuer gefragt. Wenn sie gewollt hätte, wäre sie die nächsten drei Jahre ausgebucht gewesen. Man hatte ihr Unsummen für Festanstellungen geboten. Aber Lucy hatte nicht die Absicht, sich in Festanstellung zu begeben, auch verpflichtete sie sich nie für mehr als sechs

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