16 Uhr 50 ab Paddington
weitschweifig klingen, aber ihr Verstand arbeitete messerscharf. Sie musste ein Problem lösen, das Problem ihres weiteren Vorgehens; und komischerweise appellierte dieses Problem an ihr Pflichtgefühl wie zuvor an das von Mrs. McGillicuddy.
Mrs. McGillicuddy hatte gesagt, sie beide hätten getan, was sie konnten. Auf Mrs. McGillicuddy mochte das zutreffen, aber bei sich selbst war Miss Marple nicht so sicher.
Manchmal musste man seine besonderen Gaben zum Einsatz bringen… Aber das war vielleicht überheblich… Was konnte sie schließlich noch machen? Die Worte ihrer Freundin fielen ihr wieder ein: Du bist nicht mehr die Jüngste.
Sachlich wie ein General, der einen Feldzug plant, oder wie ein Wirtschaftsprüfer, der die Bücher einer Firma durchgeht, wog Miss Marple Für und Wider ihres weiteren Vorgehens ab. Auf der Habenseite fand sich schließlich folgendes:
Meine lange Lebenserfahrung und Menschenkenntnis.
Sir Henry Clithering und sein Patensohn (heute bei Scotland Yard, glaube ich), der bei dem Fall in Little Paddocks so entgegenkommend war.
David, der zweite Sohn meines Neffen Raymond, der meines Wissens für British Railways arbeitet.
Griseldas Sohn Leonard, der in Sachen Landkarten so bewandert ist.
Miss Marple prüfte diese Aktivposten und billigte sie. Sie alle waren nötig, um die Posten der Sollseite auszugleichen – vor allen Dingen ihre körperliche Hinfälligkeit.
«Es ist ja nicht so», dachte Miss Marple, «als könnte ich nach Lust und Laune umherstreifen, Erkundigungen einziehen und Dingen auf den Grund gehen.»
Ja, Alter und körperliche Schwäche waren ihre größten Hemmschuhe. Für ihr Alter mochte ihre Gesundheit zwar ausgezeichnet sein, trotzdem war sie alt. Und wenn Dr. Haydock ihr schon die Gartenarbeit strikt untersagt hatte, würde er es kaum gutheißen, wenn sie sich vornahm, einen Mörder aufzuspüren. Denn das hatte sie letztlich vor – und genau das war der wunde Punkt: Während ihr die Aufklärung von Mordfällen bisher gewissermaßen in den Schoß gefallen war, würde sie diesmal ganz bewusst die Initiative ergreifen. Und sie war nicht sicher, ob sie das wollte… Sie war alt – alt und müde. Im Moment, am Ende eines anstrengenden Tages war ihr der Gedanke zuwider, überhaupt ein Projekt in Angriff zu nehmen. Sie wollte bloß noch nach Hause fahren, sich mit einem leckeren Abendessen auf dem Tablett vor den Kamin setzen, ins Bett gehen, am Tag darauf im Garten werkeln und hier und da ein wenig herumschnippeln, einfach in aller Ruhe Ordnung schaffen, ohne sich zu bücken und ohne sich zu überanstrengen…
«Ich bin zu alt für solche Abenteuer», sagte sich Miss Marple, schaute gedankenverloren aus dem Fenster und betrachtete die geschwungene Linie eines Bahndamms…
Eine Kurve…
Eine schwache Erinnerung ging ihr durch den Kopf… kurz nachdem der Schaffner ihre Fahrkarten geknipst hatte…
Es war möglich. Nur möglich. Aber es erlaubte eine ganz neue Sicht der Dinge…
Miss Marples Wangen röteten sich. Plötzlich fiel alle Müdigkeit von ihr ab.
Gleich morgen früh schreibe ich an David, beschloss sie. Im selben Moment fiel ihr ein weiterer wertvoller Aktivposten ein.
«Natürlich. Meine treue Florence!»
II
Miss Marple machte sich methodisch an die Vorbereitung ihres Feldzuges und stellte die Weihnachtszeit in Rechnung, die definitiv ein Verzögerungsfaktor war.
Sie schrieb ihrem Großneffen David West und kombinierte die weihnachtlichen Glückwünsche mit einer dringenden Bitte um Informationen.
Glücklicherweise wurde sie wie schon in früheren Jahren zum Weihnachtsessen ins Pfarrhaus eingeladen und konnte dort den jungen Leonard, der über die Feiertage seine Eltern besuchte, nach Landkarten ausfragen.
Leonards Leidenschaft waren Karten aller Art. Warum die alte Dame sich nach der Karte einer ganz bestimmten Gegend im Großmaßstab erkundigte, kümmerte ihn nicht weiter. Er ließ sich gern des Langen und Breiten über Landkarten aus und schrieb ihr genau auf, was für ihre Zwecke am besten geeignet sei. Aber das war noch nicht alles. Er stellte fest, dass sich genau diese Karte in seiner Sammlung befand, und lieh sie ihr. Miss Marple versprach, sie sehr sorgfältig zu behandeln und so schnell wie möglich zurückzugeben.
III
«Karten», sagte Leonards Mutter Griselda, die zwar einen nahezu erwachsenen Sohn hatte, aber immer noch zu jung und blühend für das baufällige alte Pfarrhaus aussah. «Was will sie denn mit Karten? Ich
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