16 Uhr 50 ab Paddington
Nerzmantel. Auf der Kiesauffahrt hielt ein schnurrender Rolls Royce mit einem Chauffeur hinter dem Lenkrad.
«Kann ich bitte Miss Emma Crackenthorpe sprechen?»
Sie hatte eine anziehende Stimme mit leicht gerollten Rs. Auch die Frau war anziehend, etwa fünfunddreißig, mit schwarzen Haaren und kostspieligem und elegantem Make-up.
«Bedaure», sagte Lucy, «aber Miss Crackenthorpe ist unpässlich und kann keinen Besuch empfangen.»
«Ich weiß, dass sie krank war, aber es ist sehr dringend, dass ich sie spreche.»
«Ich fürchte –», begann Lucy.
Die Besucherin schnitt ihr das Wort ab. «Ich nehme an, Sie sind Miss Eyelesbarrow, nicht wahr?» Sie lächelte einnehmend. «Mein Sohn hat mir von Ihnen erzählt. Ich bin Lady Stoddart-West, und Alexander ist im Moment bei uns.»
«Ah, so ist das», sagte Lucy.
«Und es ist sehr wichtig, dass ich Miss Crackenthorpe sprechen kann», fuhr ihr Gegenüber fort. «Ich weiß alles über ihre Krankheit, und ich versichere Ihnen, dies ist kein bloßer Höflichkeitsbesuch. Es geht um etwas, das die Jungen erwähnt haben – mein Sohn hat davon erzählt. Ich glaube, es ist von weitreichender Bedeutung, und ich möchte Miss Crackenthorpe deswegen sprechen. Könnten Sie sie bitte fragen?»
«Kommen Sie herein.» Lucy führte die Besucherin durch die Halle in den Salon. Dann sagte sie: «Ich werde hinaufgehen und Miss Crackenthorpe fragen.»
Sie ging in den ersten Stock, klopfte an Emmas Tür und trat ein.
«Lady Stoddart-West ist hier», sagte sie. «Sie möchte Sie dringend sprechen.»
«Lady Stoddart-West?» Emma wirkte überrascht. Dann verzog sie erschrocken das Gesicht. «Den Jungen, ich meine Alexander wird doch nichts passiert sein?»
«Nein, nein», konnte Lucy sie beruhigen. «Den Jungen geht es offenbar gut. Wenn ich recht verstanden habe, geht es um etwas, das die Jungen ihr erzählt haben.»
«Oh. Aha…» Emma zögerte. «Dann sollte ich sie wohl empfangen. Kann ich mich so sehen lassen, Lucy?»
«Sie sehen sehr gut aus», sagte Lucy.
Emma setzte sich im Bett auf und zog einen flauschigen rosa Schal um die Schultern, der die rosige Färbung ihrer Wangen hervorhob. Ihre schwarzen Haare waren von der Schwester gekämmt und gebürstet worden. Lucy hatte am Vortag eine Schale mit Herbstlaub auf die Frisierkommode gestellt. Der Raum sah einladend aus und erinnerte nicht an ein Krankenzimmer.
«Ich fühle mich eigentlich gut genug, um aufzustehen», sagte Emma. «Dr. Quimper hat gesagt, morgen darf ich wieder herumlaufen.»
«Sie sehen auch ganz wiederhergestellt aus», sagte Lucy. «Kann ich Lady Stoddart-West dann zu Ihnen bringen?»
«Ja, gern.»
Lucy ging wieder nach unten. «Wollen Sie mir zu Miss Crackenthorpe folgen?»
Sie führte die Besucherin nach oben, öffnete ihr die Tür und schloss sie hinter ihr. Lady Stoddart-West ging mit ausgestreckter Hand auf das Bett zu.
«Miss Crackenthorpe? Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfalle. Ich glaube, wir haben uns einmal beim Schulsportfest gesehen.»
«Ja», sagte Emma, «ich kann mich gut an Sie erinnern. Bitte setzen Sie sich doch.»
Lady Stoddart-West setzte sich in den Sessel neben dem Bett. Leise sagte sie:
«Sie müssen es sehr seltsam finden, dass ich einfach so zu Ihnen komme, aber ich habe meine Gründe. Ich glaube, es sind sehr gewichtige Gründe. Schauen Sie, die Jungen haben mir allerlei erzählt. Sie werden verstehen, dass sie wegen des hier begangenen Mordes außer Rand und Band waren. Ich muss gestehen, mir gefiel das ganz und gar nicht. Ich war nervös und wollte James sofort nach Hause holen. Aber mein Mann hat nur gelacht und gesagt, der Mord hätte doch offenkundig nichts mit dem Haus und der Familie zu tun. Er hat auch gesagt, so wie er selbst als Junge gewesen wäre und so wie James’ Briefe klangen, hätten Alexander und er dermaßen viel Spaß, dass es grausam wäre, sie hier wegzuholen. Ich habe daher nachgegeben und war einverstanden, dass sie so lange bleiben könnten, wie ursprünglich geplant war, und dass James Alexander dann mit zu uns bringen würde.»
Emma fragte: «Finden Sie, wir hätten Ihren Sohn früher nach Hause schicken sollen?»
«Nein, nein, darum geht es überhaupt nicht. Ach, das ist alles so schwierig! Aber was ich zu sagen habe, muss gesagt werden. Sehen Sie, die beiden Buben haben sehr viel aufgeschnappt. Sie haben erzählt, diese Frau – die Ermordete – also bei der Polizei sei man der Ansicht, sie könne eine Französin sein, die Ihr im
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