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16 Uhr 50 ab Paddington

16 Uhr 50 ab Paddington

Titel: 16 Uhr 50 ab Paddington Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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wusste es nicht.
    Insgesamt war sie eine große Enttäuschung für ihn gewesen. Er hatte sie natürlich nie geliebt, aber für eine so unscheinbare Frau war sie doch ganz angenehm im Umgang. Und ihre Familie und ihre Verbindungen hatten sich fraglos als nützlich erwiesen. Vielleicht nicht ganz so nützlich, wie möglich gewesen wäre, denn bei ihrer Heirat hatte er noch die Stellung hypothetischer Kinder in Betracht gezogen. Seine Jungen hätten gute Beziehungen gehabt. Aber es waren weder Jungen noch Mädchen gekommen, und Alice und ihm war nur das gemeinsame Altern geblieben, ohne dass sie sich viel zu sagen hatten und ohne dass sie sich in Gesellschaft des anderen besonders wohl fühlten.
    Sie verbrachte viel Zeit bei ihren Verwandten und reiste im Winter meistens an die Riviera. Ihr gefiel es, und er hatte nichts dagegen.
    Er begab sich nach oben in den Salon und begrüßte sie förmlich.
    «Da bist du ja wieder, meine Liebe. Es tut mir Leid, dass ich dich nicht abholen konnte, aber ich bin in der City aufgehalten worden. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Wie war es in Saint-Rapha’l?»
    Alice erzählte ihm, wie es in Saint-Rapha’l gewesen war. Sie war eine schmale Frau mit rotblonden Haaren, einer geschwungenen Nase und schwimmenden nussbraunen Augen. Sie sprach mit einer kultivierten, monotonen und etwas wehleidigen Stimme. Die Rückreise war angenehm verlaufen, der Kanal etwas stürmisch gewesen. Wie üblich waren die Zollformalitäten in Dover nervenaufreibend.
    «Du hättest fliegen sollen», sagte Harold, was er immer sagte. «So viel einfacher.»
    «Das glaube ich wohl, aber ich sitze nicht gern im Flugzeug. Ich mag es einfach nicht. Es macht mich nervös.»
    «Es spart viel Zeit», sagte Harald.
    Lady Alice Crackenthorpe antwortete nicht. Möglicherweise stellte sich in ihrem Leben weniger die Frage, wie sie Zeit sparen als wie sie sie nutzen konnte. Höflich erkundigte sie sich nach dem Befinden ihres Mannes.
    «Emmas Telegramm hat mich beunruhigt», sagte sie. «Ihr wart also alle krank?»
    «Ja, ja», sagte Harald.
    «Ich habe kürzlich erst in der Zeitung gelesen, dass in einem Hotel gleich vierzig Menschen auf einmal an einer Lebensmittelvergiftung erkrankt sind», sagte Alice. «Ich glaube ja, dass diese Kühlschränke daran schuld sind. Die Leute bewahren das Essen zu lange darin auf.»
    «Schon möglich», sagte Harald. Sollte er das Arsen erwähnen oder nicht? Als er Alice ansah, brachte er es nicht über sich. Er hatte den Eindruck, dass in Alices Welt kein Raum für Arsenvergiftungen war. Davon las man in der Zeitung. Einem selbst oder der eigenen Familie passierte so etwas nicht. In der Familie Crackenthorpe war es jedoch passiert…
    Er ging auf sein Zimmer und legte sich ein paar Stunden aufs Ohr, bevor er sich zum Abendessen umzog. Beim Essen, unter vier Augen mit seiner Frau, bewegte sich das Gespräch im Großen und Ganzen in denselben Bahnen. Höflich kaschiertes Desinteresse. Man sprach über Bekannte und Freunde in Rapha’l.
    «Auf dem Dielentischchen liegt ein Päckchen für dich», sagte Alice.
    «Ja? Habe ich gar nicht gesehen.»
    «Jemand hat mir etwas ganz Ungewöhnliches von einer ermordeten Frau erzählt, die in einer Scheune oder so gefunden worden ist. Sie sagte, das sei in Rutherford Hall gewesen. Ich nehme an, es muss sich dabei um ein anderes Rutherford Hall handeln.»
    «Nein», sagte Harold, «nein, sie hat Recht. Das war tatsächlich in unserer Scheune.»
    «Also wirklich, Harold! Eine ermordete Frau in der Scheune von Rutherford Hall – und das erwähnst du mit keinem Wort?»
    «Ach, ich bin einfach noch nicht dazu gekommen», sagte Harold, «außerdem war es eine ziemlich unerfreuliche Angelegenheit. Nicht dass sie etwas mit uns zu tun gehabt hätte, aber die Presse lief überall herum, wir mussten uns mit der Polizei abgeben und so weiter.»
    «Wie unangenehm», sagte Alice. «Hat man den Täter gefasst?», fragte sie mit flüchtigem Interesse.
    «Bisher nicht», sagte Harold.
    «Was für eine Frau war es denn?»
    «Das weiß niemand. Anscheinend Französin.»
    «Ach, Französin,» sagte Alice, und vom Schichtunterschied abgesehen, klang sie wie Inspector Brown. «Wie lästig für euch», fand auch sie.
    Sie gingen aus dem Esszimmer in das kleine Arbeitszimmer, in dem sie meistens saßen, wenn sie allein waren. Harold fühlte sich recht erschöpft. «Ich werde früh ins Bett gehen», sagte er sich.
    Er nahm das Päckchen vom Dielentisch, das seine

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