16 Uhr 50 ab Paddington
Kriege gefallener ältester Bruder in Frankreich gekannt habe. Stimmt das?»
«Es ist eine Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen müssen», sagte Emma mit brüchiger Stimme. «Sie könnte es gewesen sein.»
«Man vermutet also, die Leiche sei die dieses Mädchens, dieser Martine?»
«Ja, wie gesagt, die Möglichkeit besteht.»
«Aber warum – warum glaubt man, sie sei Martine? Hatte sie Briefe dabei? Papiere?»
«Nein. Nichts dergleichen. Aber schauen Sie, ich habe einen Brief bekommen, einen Brief von dieser Martine.»
«Sie haben einen Brief bekommen – von Martine?»
«Ja. Ein Brief, in dem sie schrieb, sie sei in England und würde mich gern besuchen. Ich habe sie nach Rutherford Hall eingeladen, erhielt jedoch ein Telegramm, in dem sie mitteilte, sie müsse nach Frankreich zurück. Vielleicht ist sie wirklich nach Frankreich zurückgereist. Wir wissen es nicht. Aber dann wurde hier ein an sie adressierter Briefumschlag gefunden. Anscheinend ist sie also doch hier gewesen. Aber ich verstehe nicht…» Sie verstummte.
Lady Stoddart-West sagte schnell:
«Sie verstehen nicht, was mich das alles angeht? Nur zu wahr. Von Ihrer Warte aus geht es mich nichts an. Aber als ich davon erfuhr – beziehungsweise eine wirre Zusammenfassung bekam – musste ich herkommen und mir Gewissheit verschaffen, dass es sich wirklich so verhielt, denn wenn ja –»
«Ja?», fragte Emma.
«Dann musste ich Ihnen etwas sagen, was ich Ihnen niemals hatte sagen wollen. Schauen Sie, ich bin Martine Dubois.»
Emma starrte ihre Besucherin an wie vor den Kopf geschlagen.
«Sie!», sagte sie. «Sie sind Martine?»
Die andere nickte heftig. «Aber ja. Das muss eine große Überraschung für Sie sein, aber es stimmt. Ich habe Ihren Bruder Edmund in den ersten Kriegstagen kennen gelernt. Er war in unserem Haus einquartiert. Nun, alles andere ist Ihnen ja bekannt. Wir verliebten uns und wollten heiraten, aber dann kam der Rückzug nach Dünkirchen, und Edmund wurde als vermisst gemeldet. Später kam die Nachricht, dass er gefallen war. Ich möchte nicht von jener Zeit sprechen. Sie ist lange her, und alles ist vorbei. Aber glauben Sie mir, ich habe Ihren Bruder sehr geliebt…
Dann kam die schlimme Kriegszeit. Die Deutschen besetzten Frankreich. Ich arbeitete für die Resistance. Meine Aufgabe war es, Engländer durch Frankreich nach England zu schleusen. Damals lernte ich meinen heutigen Ehemann kennen. Er war Luftwaffenoffizier, der für einen Spezialeinsatz in Frankreich mit dem Fallschirm abgesprungen war. Nach Kriegsende heirateten wir. Eine Zeit lang wollte ich Ihnen schreiben oder Sie besuchen, entschied mich jedoch nach reiflicher Überlegung dagegen. Es hatte keinen Sinn, alte Wunden aufzureißen, sagte ich mir. Ich hatte mir ein neues Leben aufgebaut und wollte das alte aus meiner Erinnerung streichen.» Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: «Aber ich darf Ihnen versichern, dass ich mich irgendwie gefreut habe, als ich erfuhr, dass der beste Schulfreund meines Sohns Edmunds Neffe war. Ich finde, Alexander hat sehr viel von Edmund, was Ihnen auch schon aufgefallen sein dürfte. Ich hielt es für einen glücklichen Umstand, dass James und Alexander Freunde geworden waren.»
Sie beugte sich vor und legte Emma die Hand auf den Arm. «Liebe Emma, jetzt werden Sie verstehen, dass ich sofort zu Ihnen kommen und Ihnen die Wahrheit sagen musste, nachdem ich die Geschichte des Mordfalls gehört hatte und dass man annahm, die Tote sei jene Martine, die Edmund gekannt hatte. Eine von uns beiden muss es der Polizei sagen. Wer immer die Tote auch sein mag, sie ist nicht Martine.»
«Ich kann es noch gar nicht fassen», sagte Emma, «dass Sie, ausgerechnet Sie jene Martine sein sollen, von der mir der liebe Edmund schrieb.» Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Dann runzelte sie verwirrt die Stirn. «Aber eins verstehe ich noch nicht. Haben Sie mir denn geschrieben?»
Lady Stoddart-West schüttelte heftig den Kopf. «Nein, nein, ich habe Ihnen natürlich nicht geschrieben.»
«Dann…» Emma verstummte.
«Dann hat sich also jemand als Martine ausgegeben und wollte Geld aus Ihnen herausholen. So muss es gewesen sein. Aber wer könnte das sein?»
Emma sagte zögernd: «Ich nehme an, es gab damals Menschen, die Bescheid wussten.»
Die andere zuckte die Schultern. «Wahrscheinlich ja. Aber ich hatte keine engen Freunde, niemand stand mir sehr nahe. Seit ich nach England gekommen bin, habe ich nie davon gesprochen. Und warum hat
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