160 - Martin, Deborah - Die amerikanische Braut
gegangen war, schaute sie ihm noch lange nach und versuchte, ihre verwirrten Gefühle zu ordnen. Würde sie diesen Mann jemals verstehen oder seine unter die Haut gehenden Bücke deuten können?
Der wortkarge Butler war ihr keine große Hilfe, als Abby sich anschickte, mehr über Seine Lordschaft zu erfahren. Während sie auf dem Weg zu ihrem Zimmer eine weite Treppenflucht aus weißem Marmor emporstiegen, versuchte sie McFee zum Reden zu bringen. Aber anscheinend ließ sich ein englischer Butler nicht dazu herab, mit den Gästen über seine Herrschaft zu plaudern, und die einsilbigen Antworten McFees ließen Abby bald entmutigt aufgeben.
Stattdessen bemühte sie sich, einen Blick in die Räume zu erhaschen, die sie auf ihrem Weg passierten. Aber dazu war es zu dunkel, obwohl Unmengen teurer Bienen Wachskerzen die Treppe und Flure erleuchteten. Abby sah im Kerzenschein erhellte goldgerahmte Spiegel, die an den Wänden der Halle hingen, und auf Hochglanz polierte Tischchen aus Rosenholz, die neben den massiven Mahagonitüren aufgestellt waren. Samtbezogene Stühle, die so zierlich wirkten, dass wohl nur ebensolche Menschen auf ihnen sitzen konnten, standen entlang des Treppenabsatzes.
In ihrer Jugend, als sie noch Geld gehabt hatten, hatte Papas Haus nach den Maßstäben von Philadelphia als prachtvoll gegolten. Verglichen mit dem, was sie jetzt erblickte, hatte sie in einer armseligen Hütte gewohnt!
Sie war daher fast erleichtert, als sie am Ende eines Ganges im dritten Stock ankamen und McFee sie in ein geräumiges, aber einfach eingerichtetes Schlafzimmer führte, in dem nichts sie daran erinnern konnte, wie dumm sie gewesen war, nicht von Anfang an die Kluft bedacht zu haben, die zwischen ihr und Seiner Lordschaft lag.
Kaum hatten sie das Zimmer betreten, ging Mrs. Graham auch schon auf den Butler los. „Sie heimtückischer Schotte! Wie können Sie es wagen, meine Herrin wie eine Gouvernante direkt unter dem Dach unterzubringen? Ich bestehe darauf, dass wir ein Zimmer im Familientrakt bekommen. Vergessen Sie nicht, dass Sie die Frau Seiner Lordschaft vor sich haben!“
„Mrs. Graham, bitte …“, setzte Abby an.
„Bis Seine Lordschaft mir anderweitige Anweisungen gibt“, unterbrach sie Mr. McFee, „sind Sie seine Gäste und werden in einem Gästezimmer untergebracht. Da Seine Lordschaft immer erst spät von seinen Sitzungen im Parlament zurückkehrt, hielt ich es für besser, wenn Sie ein Stockwerk für sich allein haben und nicht von seinem Kommen und Gehen gestört werden.“
„Das ist sehr umsichtig von Ihnen“, versicherte Abby eilig. Mrs. Graham schien nicht so schnell bereit zu sein, sich in die gegebene Situation zu fügen. „Vielen Dank, Sir, dass Sie sich um unser Wohlergehen bemühen“, fügte Abby deshalb noch hinzu.
Mrs. Graham rümpfte die Nase. „Sie denken, Sie seien etwas Besseres als wir, nicht wahr? Aber unter Ihrem ganzen hochmütigem Getue sind Sie nichts weiter als ein Schotte, genauso wie ich. Sie haben überhaupt keinen Grund, auf uns herabzublicken.“
„Ich bin kein Schotte, Madam – ich bin Butler. Und auch Sie sollten sich wieder an Ihre Pflichten erinnern, meine Liebe.“ Er schaute sich im Zimmer um und warf anschließend einen verächtlichen Blick auf ihre Gepäckstücke. „Und die bestehen meines Wissens darin, die Sachen Ihrer Herrin auszupacken.“
Mrs. Graham musterte ihn fassungslos. „Was erlauben Sie sich, Sie … Sie …“, legte sie los, aber Mr. McFee hatte das Zimmer bereits verlassen.
„Wie können Sie es wagen, mir zu sagen, was meine Pflichten sind, Sie anmaßender Snob, Sie!“ schrie Mrs. Graham ihm durch die Tür hinterher.
„Beruhigen Sie sich, er kann Sie ohnehin nicht mehr hören“, versuchte Abby sie zu besänftigen.
Mrs. Graham räusperte sich empört. „Ich denke immer noch, dass Sie ein Zimmer im Familientrakt bekommen sollten.“
„Ich finde dieses Zimmer sehr schön. Es ist doppelt so groß wie mein Schlafzimmer in Philadelphia.“ Als Abby an eines der Fenster trat, sah sie auf der anderen Seite einer vom Mond beschienenen Straße die schemenhaften Umrisse von Bäumen, was auf einen Park hindeutete. „Und der Ausblick ist wunderbar.“
„Aber es ist nicht das Zimmer der Hausherrin.“
Abby warf ihrer Dienerin einen ungehaltenen Blick zu. „Hören Sie auf, davon zu reden. Sie wissen mittlerweile, dass ich nicht die Frau Seiner Lordschaft bin.“ Fest entschlossen, sich nicht länger als nötig mit diesem
Weitere Kostenlose Bücher