160 - Martin, Deborah - Die amerikanische Braut
kam.
Nach einer Weile beugte sie sich jedoch zu ihm vor und flüsterte: „Wieso starrt Lady Evelina mich die ganze Zeit so an?“
„Sie wird wohl immer noch von der fixen Idee besessen sein, dass du Nats Geliebte aus Amerika bist und hierher kamst, um seine Hochzeit zu verhindern. Sie vermutet, dass ich nur vorgebe, mit dir verheiratet zu sein, um Nat zu schützen. Ich habe ihr gesagt, dass das lächerlich sei.“
„Bist du dir wirklich sicher, dass sie dir geglaubt hat?“
„Wenn sie es nicht getan hat, kann ich es nicht ändern.“
„Aber ich.“ Abby nahm ihren perlenbesetzten Handbeutel. „Schau, ihre Mutter verlässt mit ihren Freunden gerade die Loge. Ich werde Lady Evelina jetzt einfach erklären, was es mit Nathaniel auf sich hat.“
„Das wirst du unter keinen Umständen tun!“ Spencer hielt sie zurück.
„Warum nicht?“
„Ich möchte nicht, dass sie die Wahrheit über uns erfährt.“
„Ich will ihr nur erklären, dass ich nicht Nathaniels Geliebte bin.“
„Du kannst mit einer wohlerzogenen Engländerin nicht über jemandes Geliebte sprechen! Das verstößt gegen jeden Anstand.“
„Die Dinge beim Namen zu nennen verstößt gegen den Anstand?“ Abby stand auf und betrachtete Spencer mit kaum verhüllter Belustigung. „Kein Wunder, dass ihr Engländer eure Kolonien verloren habt. Wie bekommt ihr bei all den Lügen, dem ‚Anstand* und den Ausflüchten überhaupt etwas zu Stande?“
Spencer war überrascht und sah ihr gebannt nach, während sie sich auf der anderen Seite der Loge neben Evelina setzte.
Evelina schien ihre Gegenwart unbehaglich zu sein, und sie blickte beharrlich an ihr vorbei, aber davon ließ Abby sich nicht abschrecken. „Lady Evelina“, begann sie vergnügt, „ich bin so froh, endlich Gelegenheit zu haben, mit Ihnen zu reden. Ich brauche nämlich Ihren Rat.“
„Ja?“ fragte Evelina und wagte einen kurzen Blick auf ihre scheinbare Rivalin.
„Da mir die Londoner Gesellschaft fremd ist, kenne ich nicht alle Finessen der sozialen Spielregeln. Ich hatte gehofft, dass Sie mich darin unterrichten könnten, denn Ihr Verlobter hat mir erzählt, dass Sie die perfekte englische Lady seien. Er meinte, ich könnte nichts Besseres tun, als Ihnen nachzueifern.“
Evelina wurde neugierig. „Das hat Nathaniel gesagt?“
„Aber ja. Es verging kaum ein Tag, an dem er nicht ein Loblied auf Sie gesungen hat. ‚Lady Evelina ist das schönste Geschöpf in England* und ‚Lady Evelina ist der Liebreiz in Person’.“ Abby lächelte Evelina schüchtern an. „Ich muss gestehen, dass er mich neidisch auf Sie gemacht hat. Ich möchte, dass Spencer auf mich genauso stolz ist wie Nathaniel auf Sie – aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Als Amerikanerin fühle ich mich auf dem Londoner Parkett wie eine Anfängerin.“
Spencer beobachtete, dass Evelina Abby verwirrt anblickte. Dann schaute sie nachdenklich zu ihm herüber, so als wolle sie anhand seiner Reaktionen Abbys Verhalten einschätzen. Ahnte sie womöglich die Wahrheit über ihn und Abby?
Aber nein, das war lächerlich. Warum sollte sie?
Sein Eindruck, dass sie etwas ahnte, verflüchtigte sich, als Evelina sich wieder Abby zuwandte. „Was möchten Sie denn wissen?“
Spencer entspannte sich, als er hörte, dass die beiden Frauen begannen, sich über den richtigen Gebrauch des Fächers zu unterhalten, über Dienstboten und über weiteren Unsinn, den eigentlich jeder wusste – sogar Amerikanerinnen aus Philadelphia. Wie schlau von Abby, Evelina so in Sicherheit zu wiegen!
Als die Musik wieder aufspielte und den Beginn des ersten Aktes von Oliver Goldsmiths She Stoops to Conquer einleitete, nannten Abby und Evelina sich bereits beim Vornamen und plauderten freundschaftlich miteinander. Dann kehrte Lady Tyndale in die Loge zurück, und Abby trennte sich von Evelina, um sich wieder zu Spencer zu setzen.
„Gut gemacht, meine Liebe“, meinte er anerkennend.
Abbys Augen funkelten triumphierend. „Manchmal erzielt man bessere Ergebnisse, wenn man die Wahrheit sagt.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Demnach hat mein Bruder all diese Dinge über Evelina erzählt?“
Mit einem selbstgefälligen Lächeln wandte sich Abby der Bühne zu. „Er war natürlich nicht ganz so wortgewandt. Aber ich glaube, dass wir in diesem Fall der Wahrheit ruhig etwas nachhelfen dürfen.“
Spencers Lachen hallte noch durch den Saal, als der erste Akt bereits anfing.
Er hatte Goldsmiths bekanntes Stück noch nie gesehen.
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