160 - Martin, Deborah - Die amerikanische Braut
erzählen. „Ich bin zwar in Philadelphia aufgewachsen, aber meine Mutter war die Tochter eines Stammeshäuptlings der Seneca.“ Sie blickte ihn herausfordernd an. „Ihre Kultur hat mich genauso geprägt wie die meines Vaters.“
Blakely lächelte jetzt. „Dann sind Sie mir gegenüber im Vorteil. Ich bin zwar der Sohn eines Barons, aber nur von meiner Mutter aufgezogen worden. Sie war hauptsächlich mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, und bis mein Onkel mich nach England holte, trieb ich mich als Taschendieb durch die Straßen Genfs.“
Abby war so überrascht, dass ihr keine Antwort einfiel.
Blakely schien auch gar keine zu erwarten. „Aber Sie wollten mir gerade erklären, inwiefern Ravenswood in Amerika so gänzlich anders war.“
Abby senkte den Kopf. „Trotz seiner Ernsthaftigkeit war er auch sehr freundlich und liebenswürdig und …“ Sie beendete den Satz nicht, um nicht das gesamte Ausmaß ihrer Verblendung einzugestehen.
„Wollen Sie damit sagen, dass er Sie hat glauben lassen, er würde Ihnen bald einen Antrag machen?“ erkundigte Blakely sich missbilligend.
„Oh nein, ganz und gar nicht. Er war immer der perfekte Gentleman. Aber wir waren sehr gute Freunde. Deshalb willigte ich auch ein, ihn zu heiraten. Während er in Amerika war, konnte ich mich mit ihm über alles unterhalten. Er ermutigte mich sogar zu eigenen Standpunkten und hörte mir aufmerksam zu, auch wenn er nicht meiner Meinung war.“
„Und jetzt?“
„Jetzt ist er arrogant, bevormundend und entschlossen, stets seinen Willen durchzusetzen – ganz gleich, was ich dazu sage.“
„Das klingt nach dem Ravenswood, den ich kenne.“
„Es ist furchtbar – vor allem, wenn man ihm völlig ausgeliefert ist.“
„Das ist sicher nicht das, was Sie sich vorgestellt hatten.“
„Nein, ich dachte, es würde …“ Sie wandte den Blick ab. „Ich habe mich geirrt.“ Sie straffte die Schultern und erwiderte seinen Bück. „Aber es ist ohnehin alles nur vorgetäuscht. Spencer hat überhaupt nicht den Wunsch zu heiraten – und schon gar nicht mich.“
„Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher.“
Ehe sie fragen konnte, was er damit meinte, ging ein leises Raunen durch den Saal. Abby sah, wie Spencer den Saal in Begleitung einer Frau betrat, die ein sehr gewagtes Kleid trug. Als sie Spencers Arm ergriff und ihm etwas zuflüsterte, beugte Spencer sich vertrauensvoll zu ihr hinab, um sie besser verstehen zu können. Abbys Herz krampfte sich zusammen.
„Wer ist die Frau, mit der Spencer redet?“ flüsterte sie.
Captain Blakely hatte die beiden auch beobachtet, und sein Gesicht verfinsterte sich. „Niemand von Bedeutung. Kommen Sie, gehen wir wieder zu Lady Evelina und meiner Frau.“
Captain Blakelys zurückhaltende Antwort sprach Bände, und Abby wurde das Herz schwer. „Sie ist seine Geliebte, nicht wahr?“
„Nein, natürlich nicht.“ Als Abby zweifelnd eine Augenbraue hochzog, fügte er seufzend hinzu: „Nun gut, Genevieve war einmal seine Geliebte, aber das ist jetzt zwei Jahre her, und sie sind bloß noch befreundet.“
Und allem Anschein nach sehr eng befreundet, nach der Selbstverständlichkeit zu urteilen, mit der sie Spencer berührte, und der Tatsache, wie aufmerksam er ihr zuhörte. Genevieve – sie hatte sogar den passenden Namen für eine Geliebte.
Abby schluckte. „Aus welchem Grund hat Lady Tyndale sie eingeladen?“
„Lady Tyndale wird nicht gewusst haben, in welcher Beziehung Genevieve einmal zu Ravenswood stand. Beide behandelten ihre jeweiligen Affären immer mit größter Diskretion, und nur wenige Leute wussten von ihrer Beziehung. Zudem ist sie jetzt mit einem Baron verheiratet und annähernd respektabel.“
„Das sehe ich.“
Blakely drückte ihre Hand. „Glauben Sie mir, Abby – sie bedeutet Spencer nichts.“
Auf Abby machte es einen ganz anderen Eindruck. „Selbst wenn es anders wäre, könnte ich mich wohl kaum beschweren. Ich bin ja eigentlich gar nicht seine Frau.“
„Aber Sie haben Anspruch auf seinen Respekt. Und ich denke, dessen können Sie gewiss sein. Sie sollten die Szene also nicht überbewerten.“
Wie sollte ihr das gelingen? Nachdem sie und der Captain wieder zu den anderen zurückgekehrt waren, gelang es ihr nicht mehr, der Unterhaltung zu folgen. Zu viele offene Fragen gingen ihr durch den Kopf. Ob Spencer zurzeit eine Geliebte hatte? Würde er sich mit ihr auch treffen, während Abby noch seine Frau spielte? Hatte sie überhaupt das Recht, ihm
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