1600 - Willkommen im Hades
mächtige Arme und Beine hatte. Da gab es an den Händen und Füßen keine Finger oder Zehen, sondern breite, gebogene und spitze Krallen. Auf den Schultern wuchs etwas, das den Namen Kopf nicht verdiente. Es war ein Schädel mit hoch stehenden Teufelsohren. Zu ihnen passte das verzerrte Gesicht mit dem breiten, aber in die Höhe gezogenen und offenen Maul, über dem sich so etwas wie eine Nase abmalte. Reißzähne leuchteten aus dem Maul hervor, eine glatte Stirn ohne ein einziges Haar war zwischen den Ohren zu sehen, und auch zwei Augen waren vorhanden.
Zwei kalte Glotzer, die sich der Betrachterin irgendwie farblos präsentierten.
Sie waren groß und standen quer. Allein der Anblick dieser Sinnesorgane schockte, und doch kam noch etwas hinzu, das auf eine gewisse Weise faszinierend war, wie Anna sich selbst gegenüber zugeben musste.
Zwei übergroße Schwingen waren ausgefahren. Wie bei einer Fledermaus, nur wesentlich größer, sodass Anna an die Schwingen eines Flugdrachen denken musste, den sie auf manchen Bildern gesehen hatte. Die Gestalt stand nicht auf ihrem Podest. Sie hockte, und sie machte den Eindruck, als würde sie jeden Augenblick ihren Platz verlassen, um die Betrachterin anzuspringen.
Was sie hier sah, das war unglaublich. Aber Anna bildete es sich auch nicht ein. Hier hatte jemand etwas hinterlassen, das möglicherweise vor Urzeiten geschaffen worden war und nicht hatte entdeckt werden sollen.
Dann aber waren Menschen gekommen und hatten dieses Versteck durch ihre Unachtsamkeit geöffnet, sodass es jedem zugänglich war.
Das gehört nicht hierher!, schoss es ihr durch den Kopf. Das ist auch nicht die normale Welt. Das ist der Hades. Das ist die Unterwelt.
Ja, willkommen im Hades.
Anna Eichler wunderte sich über sich selbst, dass sie die innerliche Ruhe behielt. Andere Menschen wären schreiend weggelaufen, bei ihr war das anders.
Sie blieb, und sie fühlte sich dabei wie auf den Fleck gebannt. Es mochte auch deshalb so sein, weil sie es gelernt hatte, sich zu beherrschen. Als Fotografin musste man einen kühlen Kopf bewahren und sich nur auf das konzentrieren, was wirklich wichtig war.
Sie schrie nicht.
Sie drehte sich auch nicht um und floh.
Sie blieb einfach stehen und bemühte sich, ihren Atem unter Kontrolle zu halten. Nur die Ruhe konnte es bringen, und die hatte sie auch innerlich wiedergefunden. Die Lampe hielt sie noch in der Hand, und sie wunderte sich darüber, dass der Strahl kaum zitterte.
Anna schaltete die Lampe aus und steckte sie weg.
Es hätte jetzt eine tief schwarze Finsternis über die Höhle fallen müssen, doch das geschah nicht, denn jetzt sah Anna es genau. Diese mörderische Figur strahlte von innen her. Es war ein Licht. Nur stellte sich die Frage, ob man es als künstlich oder echt ansehen konnte.
Licht bedeutet Leben!, sagte sich Anna. Und wenn sie diesen Gedanken weiterhin verfolgte, dann musste sie einfach zu dem Schluss kommen, dass diese Gestalt…
Nein, das wollte sie nicht. Das wollte sie auf keinen Fall. So etwas konnte nicht leben. Das war ja aus Stein, ja, das war aus Stein!, hämmerte sich Anna ein.
Trotzdem blieben Restzweifel bestehen. Es musste nicht stimmen. Das konnte auch anders sein, aber darüber wollte sie nicht länger nachdenken.
Jetzt war es wichtiger, sich den Tatsachen zu stellen. Das bedeutete, dass sie einen unwahrscheinlichen und auch unglaublichen Fund gemacht hatte. Etwas, was die Welt noch nie zuvor gesehen hatte. Von dem sie wahrscheinlich nichts ahnte.
Man würde sie auslachen, wenn sie davon berichtete. Man würde ihr den Rat geben, sich an einen Psychiater zu wenden. Das alles wäre auch normal gewesen, aber Anna war Fotografin. So konnte sie das Gesehene für die Nachwelt festhalten.
Genau das hatte sie sich vorgenommen. Die Welt sollte von dieser schrecklichen Figur erfahren. Jeder sollte wissen, was sich in dem Fels verborgen gehalten hatte.
Sie machte sich keine Gedanken darüber, wer dieses Untier hinterlassen haben könnte. Es war nur wichtig für sie, dass es untersucht werden konnte. Dafür brauchte sie einen Beweis.
Anna Eichler hatte schon einige Motive aufgenommen, die man nicht eben als normal bezeichnen konnte. Dazu gehörten schlimme Verkehrsunfälle und auch Szenen aus Kriegsgebieten und das, was von terroristischen Anschlägen verursacht worden war.
Stets war sie bei den Aufnahmen relativ ruhig gewesen. In diesem Fall allerdings war es mit ihrer Ruhe vorbei. Jetzt kam sie sich vor wie ein
Weitere Kostenlose Bücher