1600 - Willkommen im Hades
haben.«
»Das habe ich«, flüsterte Anna.
Ihr Vater hob die Schultern. »Bei mir ist das anders, Herr Sinclair. Das ist nicht gegen Sie persönlich gerichtet, aber ich habe mich immer als einen Realisten angesehen. Ich bin Sprengmeister von Beruf. Mich interessiert die Technik. Ich gebe zu, dass etwas passiert ist, was auch mir Sorgen bereitet, aber das muss ich hinnehmen, obwohl ich es nicht verstehe.«
»Gut, Vater. Dann musst du unsere Meinung auch akzeptieren.«
»Das tue ich.« Er lehnte sich auf seiner Bank zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ist denn inzwischen etwas geschehen, von dem ich noch nichts weiß, Anna?«, wollte ich wissen.
Sie blickte mich an und machte den Eindruck einer Frau, die erst noch nachdenken musste. Dann sprudelte es aus ihr hervor. Sie berichtete davon, dass sie die Spuren im Schnee gesehen hatte und nicht wusste, wie sie diese einordnen sollte.
»Die sah ich auch.«
»Und wo?«
»Vor dem Haus.«
»Mein Gott, dann ist er…« Anna Eichler stoppte mitten im Satz. Sie riss ihre Augen weit auf. Zu sagen wagte sie nichts, denn ihr Blick glitt an mir vorbei und galt dem, was hinter mir lag.
Unter anderem waren es die Fenster.
»Da-da-ist-es…«
Ich fuhr auf meinem Stuhl herum. Mit einem Blick erfasste ich die Vierecke.
Aber nur in einem entdeckte ich etwas.
Von außen her glotzte jemand in die erleuchtete Küche. Dass es kein normales Gesicht war, sah ich auf den ersten Blick. Ein Mensch hatte keine solche Fratze und auch nicht zwei rote Glutaugen.
Was da hinter der Scheibe lauerte, war das kleine Monster, das eigentlich in der Höhle fest im Gestein hätte sein müssen…
***
Raniel hatte sich von seinem Verbündeten getrennt. Er war allein unterwegs. Ein einsamer Wanderer im hohen Schnee. Sein Umhang wurde vom leichten Wind aufgebläht, sodass er aussah, als würde er wie ein dunkles Segel über dem weißen Grund schweben.
In seinem Gesicht bewegte sich nichts. Seine Lippen lagen aufeinander.
Die Züge waren starr geworden, und je mehr Zeit verstrich, umso schneller ging er.
Der Gerechte ahnte, dass er zu spät kommen würde. Trotzdem wollte er es genau wissen, und sollte dieser verfluchte Urteuf el sich noch in der Höhle befinden, würde sich Raniel ihm zum Kampf stellen.
Allmählich graute der Morgen. Der Himmel nahm eine schmutzige Farbe an. Hoch über den Graten war er heller geworden, da zeigte der Tag bereits sein neues Gesicht.
Den Weg brauchte ihm niemand zu beschreiben. Er witterte das Böse.
Dass die Landschaft durch die Sprengung ein anderes Gesicht bekommen hatte, das sah er nicht. Aber er fand zielsicher den Weg in den Fels hinein.
Raniel tauchte ein in die Dunkelheit. Er sah es nicht, er spürte nur, dass er hier richtig war. Etwas wehte ihm entgegen, das er als einen Hauch wahrnahm.
Es war der Odem des Bösen. Der Hauch der Hölle. Der letzte Beweis dafür, dass er den richtigen Weg gegangen und nun bald am Ziel angelangt war. Vor ihm weitete sich der Felsspalt. Ein kalter Hauch fuhr ihm aus der Dunkelheit entgegen.
Raniel sah nichts, doch er musste etwas sehen. So griff er in seinen Umhang und holte eine Lampe hervor, die er einschaltete.
Ein breiter Strahl stach in die Finsternis hinein. Er hätte ein Ziel treffen müssen, aber es war keines da. Das Licht traf nur einen leeren Sockel.
Raniel stöhnte auf. Er beugte sich dabei nach vorn und flüsterte: »Der Himmel sei uns gnädig, wenn die Hölle ein Tor geöffnet hat…«
Mehr konnte er nicht sagen. Aber er wusste jetzt, dass die wüde Schlacht nicht mehr verhindert werden konnte…
ENDE des ersten Teils
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