1604 - Panoptikum des Schreckens
nur, weshalb ihr euch so große Umstände macht. Ihr hättet mich besuchen können. Und dann wundert es mich, dass ich zwischen euren Wachsfiguren eine Gestalt gefunden habe, die aussieht wie John Sinclair.«
»Er ist uns wichtig.«
»Und warum?«
»Das werden wir dir nicht sagen, Purdy. Du wirst es bald am eigenen Leibe erfahren.«
Das hörte sich nicht gut an. Als Purdy keine weitere Erklärung erhielt, fühlte sie sich trotzdem wie gefangen. Sie taten ihr nichts, und doch war ihre Feindseligkeit zu spüren, was bei ihr einen leichten Schauer hinterließ.
»Komm her!«, befahl der Mann.
Purdy schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht daran. Wenn du etwas von mir willst, musst du selbst kommen. Alles andere kannst du vergessen. Ist das klar?«
Sie erhielt keine Antwort. Aber die vier Personen reagierten trotzdem.
Sie drehten ihre Köpfe so, dass sie sich anschauen konnten, und sie schienen mit den Augen zu reden. Und zwar so lange, bis eine Entscheidung getroffen worden war.
Sie bezog sich auf Rudy. Er zeigte ein Lächeln, dann ein Nicken, und beides galt Purdy Prentiss, die einen Augenblick später zusah, wie sich der Junge zu ihr auf den Weg machte. Die Familie hatte ihn bestimmt, sie, Purdy, zu holen.
Rudy hatte es nicht eilig, und doch bewegte er sich unaufhaltsam auf sie zu.
Die Staatsanwältin wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Es hatte selten Situationen in ihrem Leben gegeben, in denen sie sich hilflos gefühlt hatte. Jetzt war eine solche da.
Sie wusste nicht, wie sie sich wehren sollte. An Flucht dachte sie zwar, vergaß den Gedanken jedoch recht schnell wieder. Außerdem hätte die andere Seite eine Flucht kaum zugelassen. Alles, was hier ablief, basierte auf einem Plan, den Purdy leider nicht früh genug durchschaut hatte.
Rudy lächelte sie an. Ob es ein warmes echtes Lächeln oder nur das Zucken der Lippen war, wusste sie nicht zu sagen. Es kam ihr auch unwichtig vor, ebenso wie der Rest der Familie unwichtig zu sein schien.
Im Moment zählte nur der Junge, der sie überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte.
Sie schaute in seine Augen und musste schlucken. Wenn sie sich nicht zu sehr irrte, war Rudys Blick ein anderer geworden. Es konnte auch daran liegen, dass die Farbe gewechselt hatte.
Der Begriff farblos kam Purdy in den Sinn, und das war zuvor nicht der Fall gewesen.
Rudy stoppte seine lautlosen Schritte, als er eine bestimmte Entfernung erreicht hatte.
Er lächelte wieder. Purdy schluckte. Ihr gefiel das Lächeln nicht. Es kam ihr einfach zu hölzern vor.
Und Purdy ärgerte sich, dass es ihr nicht gelang, in sich einen Widerstand gegen den Jungen aufzubauen. Sie fühlte sich zu sehr unter der Kontrolle dieser kleinen Person.
»Komm, Purdy, komm…«
Rudy hatte leise gesprochen und zugleich sehr intensiv. Purdy konnte sich nicht wehren. Sie stand bereits unter dem Bann dieser kleinen Gestalt.
»Warum? Was ist?«
»Wir brauchen dich.«
»Wofür?«
»Du sollst etwas für uns erledigen.«
Der Klang der Stimme hatte sie zwar nicht hypnotisiert, aber so etwas wie einen Widerstand in ihr zusammensinken oder erst gar nicht aufkommen lassen.
Purdy starrte in das Gesicht des Jungen, und sie sah sich nicht in der Lage, ihren Blick abzuwenden. Das Gesicht und darin besonders die seltsam veränderten Augen zogen sie an.
Bisher hatte Rudy sie nur angeschaut. Das änderte sich, als er seinen rechten Arm ausstreckte.
Purdy wusste genau, was er verlangte. Sie zögerte. Eigentlich wollte sie nicht, aber es blieb ihr nichts anderes übrig.
Das Ausstrecken der Hand war mit einem Befehl zu vergleichen, dem sie unbedingt nachkommen musste. So hob auch sie ihren Arm an, streckte ihn ebenfalls aus und sorgte dafür, dass sich beide Hände einander näherten.
Rudy fasste zu. Seine Hand war kleiner als die der Staatsanwältin, die sich allerdings über den Druck wunderte, mit dem ihre Hand umfasst wurde. Die Kraft hätte sie Rudy kaum zugetraut, und sie merkte auch sofort den Zug, der sie in die Nähe des Jungen holte.
Es hatte den Anschein, als wollte Rudy sie umarmen, doch im letzten Augenblick drehte er sich zur Seite, ließ ihre Hand aber nicht los.
»Komm mit, Purdy.«
»Wohin soll ich gehen?«
»Das wirst du sehen. Außerdem gehörst du jetzt zu uns. Du bist so etwas wie ein Mitglied unserer Familie. Ist das nicht wunderbar?«
Purdy Prentiss hatte jedes Wort genau gehört. Sie wusste nur nicht, was sie davon halten sollte.
Ein Mitglied einer Familie zu sein, die keine
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