1610 01 - Der letzte Alchimist
hinterwäldlerische England zu gehen, entsprang vornehmlich dem Wunsch, das Offensichtliche zu vermeiden.
Ich rutschte auf dem Sattel herum, ritt unter den Steinbogen der Porte St Honoré und grüßte die Wachen.
Darioles Hengst folgte mir würdevoll und gehorsam. Der Junge ritt mit sorglosem Können. Es war offensichtlich, dass er schon von Kindesbeinen an den Sattel gewöhnt war.
Etwas an seinem Gesichtsausdruck beunruhigte mich.
Im Krieg oder bei einer simplen Schlägerei passiert so etwas nicht, doch bei einem Duell kommt es manchmal vor, dass sich zwischen den Kombattanten etwas entwickelt, als würde man zusammen tanzen oder musizieren – ein Gemeinschaftsgefühl, eine Art Komplizenschaft.
Zwar ist ein Kampf kein Tanz – endet er doch zumeist mit dem Tod des einen –, aber es entsteht ein Gefühl von Partnerschaft, auch wenn die beiden Seiten nicht auf das gleiche Ziel hinarbeiten.
Ich schauderte unwillkürlich und fragte mich, ob das wohl jemand bemerkt hatte.
Ich weiß, worum es hier geht, Monsieur ›Dariolet‹.
Er amüsierte sich über das, was zwischen uns geschehen war. Und er triumphierte. Aber er zeigte sich auch nicht annähernd angewidert.
Man rechnet etwa achtundvierzig Meilen mit dem Boot über die Seine von Paris nach Rouen. Über die Straße sind das gut anderthalb Tage – selbst wenn die Straßen nicht mit Wagen, Karren, Reitern und dergleichen überfüllt sind. Dann noch einmal halb so viel bis nach Le Havre.
Kurz fragte ich mich, ob ich das Flussboot nach Rouen nehmen sollte, um zumindest von der Ile de France ins Herzogtum Normandie zu verschwinden. Die Passage kostete drei, vier Sous pro Mann, aber da waren noch die Pferde …
Die Boote waren voll.
Sie nahmen überhaupt keine Passagiere mehr auf, egal zu welchem Preis. Na ja, auf dem sich windenden Fluss hätte es auch bis zum Abend gedauert, bis wir St Germain erreicht hätten, und ein Boot kann man nicht so einfach so verlassen.
Ich nahm die kurze Route quer übers Land, doch während des Rittes wurde ich mir allmählich unsicher, ob St Germain eine gute Wahl war; immerhin stand dort einer der königlichen Paläste. Ich überquerte so rasch wie möglich die Brücke dort und beendete meine Reise einige Meilen weiter in Poissy.
»Es heißt, der Herzog habe sich in der Bastille verbarrikadiert!«, rief Lassels, kaum dass er mich sah. »Ist das wahr?«
Lassels war einer der jüngeren Schreiber des Steuerintendanten und somit einer von Sullys Angestellten, ein Mann, dessen Dienste ich in meiner Funktion als Spion schon oft genutzt hatte. Besorgt setzte er mich an ein Fensterplatz im Rathaus von Poissy und versorgte mich mit Essen: Butter und Milch, Walnüssen und Eiern. Und ich wage zu behaupten, dass ich verstaubt genug aussah, um seine Sorge zu rechtfertigen.
»Seit wann weißt du davon?«, verlangte ich zu wissen.
»Seit gut einer Stunde. Der diensthabende Sergeant hat es Messire Intendant erzählt, als er eine Proklamation auf dem Marktplatz angeschlagen hat.«
Offensichtlich waren Reiter aus Paris schneller als ich. Da ich aber kein Ersatzpferd hatte, wagte ich es auch nicht, die Stute bis an ihre Grenzen zu treiben.
Ich blickte aus dem Fenster auf den Platz und sah den Grund für mein fehlendes Ersatzreittier. Monsieur Dariole, die Hand auf dem Heft seines Rapiers und den Hut in den Nacken geschoben, stand auf dem Platz und las die Proklamation inmitten der Einheimischen. Er war achtzehn Meilen mit nur der linken Hand am Zügel geritten, sodass die rechte auf dem Rapier unbelastet war, und er hielt sich genau einen Fuß außerhalb der Reichweite, in der ein Kampf ohne Vorwarnung hätte beginnen können.
»Du wirst bessere Informationen haben als ich«, fügte ich an Lassels gewandt hinzu und log aus Gewohnheit: »Ich bin jetzt auf dem Weg nach Paris. In der Bastille, sagst du? Die lässt sich leicht verteidigen.«
»Aber ja. Es heißt, der Herzog laufe ständig auf und ab und weine um den Großen Heinrich. Alle anderen Höflinge sind in den Palast gelaufen, um Königin Maria ihre Dienste anzubieten.« Lassels stammte wie der Herzog auch aus einer alten, hugenottischen Familie. Er klang ein wenig neidisch, und ich wusste auch warum. An einem Medicihof würden Protestanten es schwer haben. Lassels fügte hinzu: »Solange er nicht weiß, dass ihm nichts passieren kann, wird er nicht herauskommen. Und? Wird ihm nichts passieren?«
»Das wollen wir doch hoffen«, und ich fühlte mich so düster, wie es klang.
Die
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