1610 02 - Kinder des Hermes
Italienisch, oder?«
»Ich spreche keine Mathematik!«
Suor Caterina kicherte fröhlich.
»Ich werde es dir erklären«, sagte sie und wurde wieder ernst. »Das hier ist, was der Londoner Meister berechnet haben wird, auch wenn ich es ein wenig verzerrt und nebulös finde. Valentin wird dir später erklären, warum das so ist. Jetzt schau her. Ich habe nicht erwartet, dass du hierher kommen würdest – ebenso wenig wie der Fremde: Saburo Tanaka.«
»Tanaka Saburo«, korrigierte ich sie.
Sie seufzte wie über einen hoffnungslosen Schüler und richtete ihre Aufmerksamkeit weiter auf Dariole. »Die Chance, dass du aus Eurem Gefängnis in London entkommen würdest, nachdem er dich erst einmal dorthin gebracht und missbraucht hatte, war so gut wie nicht vorhanden.«
Dariole schwieg. Aus Angst, die alte Frau könnte sich beleidigt fühlen, murmelte ich einen Kommentar. »Nur den wenigsten gelingt es, aus dem Tower zu fliehen, das ist wohl wahr.«
»Es war so unwahrscheinlich!« Suor Caterinas perfekt geformter Fingernagel folgte den Schnörkeln und kabbalistischen Zeichen auf dem Papier. »Aber hier ist etwas, das wahrscheinlich ist – war.«
Dariole nahm das Papier und hielt es ins Licht. In der Sonne fiel ein blasser Schatten auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren blutunterlaufen, wie ich bemerkte. Sie schläft noch immer nicht.
»Hat er mich dort vergewaltigt? ›Luke‹. Hat er mich dort zu Boden geworfen?«
»Ja.«
»Und was hätte ich demnach tun sollen?« Sie warf das Papier zu Caterina. »Sterben? Mich mit meiner Hose erhängen?«
Ihr Tonfall war beißend und herausfordernd. Selbstschutz, dachte ich. Die Nonne begann mit einer wahren Flut von mathematischen Erklärungen.
»Moooment!« Dariole hob beide Hände. »Auf Französisch, bitte! Oder meinetwegen auch auf Englisch oder Spanisch, aber nicht in diesem mathematischen Kauderwelsch!«
Ihre Wangen waren noch immer gerötet.
»Warte.« Caterina griff nach dem Handgelenk des Mädchens. Entsetzt streckte ich die Hand aus, einen Herzschlag zu spät. Sie wird mit dem Reflex eines Fechters reagieren, hatte ich noch Zeit zu denken.
Darioles Hand zuckte, doch nicht so, als wolle sie sich aus dem Griff der alten Frau befreien und ihr dabei womöglich die Hand brechen.
»Diese Berechnungen haben etwas mit Robertos Plan zu tun.« Langsam ließ Caterina Dariole wieder los. Die beiden blickten einander an. Dariole nickte knapp.
Caterina fuhr fort: »Das hier sind die letzten Berechnungen. Er hat alles so sorgfältig geplant, dass es nahezu unvorstellbar war, dass er dich nicht hätte entführen können, nicht angesichts des Zeitpunkts, nach dem er gesucht hat. Jeder muss irgendwann einmal schlafen.«
»Ich war sorglos.« Die Stimme der jungen Frau klang hart wie Eisen.
»Selbst wenn du bis ins hohe Alter hinein keinerlei Fehler machen würdest, mein Kind, würdest du schließlich doch sterben.«
»Wenn ich alt bin , ist mir der Tod egal!«
Die Italienerin stieß ein lautes, hallendes Lachen aus. Ich legte kurz den Kopf in die Hände.
»Bitte, entschuldigt, Suor«, sagte ich und hob den Blick. »Sie ist nur ein Gör ohne Benimm, und ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach, sie übers Knie zu legen und ihr Manieren beizubringen!«
»Aber ja doch … als wenn Ihr das könntet …« Zum ersten Mal seit zwei Wochen zog Dariole die Mundwinkel hoch.
»Wie ich sehe, vermag ich dich nicht zu überzeugen.« Die ältere Frau strahlte die Selbstbeherrschung und Ruhe einer Nonne aus. Sie ließ mich übermäßig groß und gewalttätig erscheinen, selbst im Sitzen, und Dariole … Neben der alten Nonne wirkt die junge Fechterin wie ein Straßenschläger, dachte ich bei mir.
Caterina beugte sich vor und blickte Dariole ins Gesicht. »Die Menschen werden dich nicht immer angreifen, kaum dass du einmal nicht so gut aufpasst, meine Kleine. Das habe ich zwar nicht errechnet, aber ich weiß, dass es stimmt, und …«
»Dann sagt mir: Werde ich alt werden?«
»Dariole!«, protestierte ich gegen ihre Unterbrechung. Außerdem wollte ich nicht, dass sie die Antwort hörte. »Suor Caterina, wenn Ihr bitte fortfahren wollt …«
»Dein Schicksal ist mit dem der Stuarts verbunden. Wenn James stirbt, wirst auch du nicht mehr lange leben.«
»Wie lange?«
»Dariole«, begann ich erneut. Sie ignorierte mich.
» Wie lange?«
»Gütiger Gott, was für ein Mädchen! Wenn du es unbedingt hören willst … weniger als ein Jahr.«
Die junge Frau blinzelte noch nicht
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