1610 02 - Kinder des Hermes
nachgedacht!«
Dariole wirkte amüsiert.
Langsam entnahm ich der aufgeregten Rede der alten Frau einen Sinn. »Ihr seid der Meinung … Ja, was eigentlich? Dass er es nicht gewusst hat? Dass er vorausgesehen hat, dass sie nicht entkommen wird?«
» Cielo ! Nicht dass sie das nicht tun wird, dass es unmöglich ist, Valentin! Er hat es für unmöglich gehalten. Er hat errechnet, dass sie im Tower bleiben wird. Und nun ist sie frei!«
»Und?« Ich runzelte die Stirn.
»Und?«, echote sie. »Es ist etwas geschehen, das zu berechnen, wir uns noch nicht einmal die Mühe gemacht haben! Weder der Londoner Meister noch ich. Das ist etwas … etwas, womit Roberto nicht gerechnet hat.«
Dariole schaute mich von der Seite her an und unternahm einen zitternden, aber überzeugenden Versuch in Arroganz. »Kann mir gar nicht vorstellen warum. Ich habe damit gerechnet zu entkommen.«
Es war nicht die Verwegenheit ihrer Lüge, sondern das verwegene Prahlen, was mich schlucken ließ. Früher wäre es echt gewesen; nun sah ich es jedoch als den Versuch, sich selbst Mut zu machen.
»Saburo hat Euch bei der Flucht geholfen«, erinnerte ich sie in sanftem Ton und hatte die Befriedigung, sie auf vertraute Art das Gesicht verziehen zu sehen. Doch das waren nur noch Reste der Göre, die ich einst gekannt hatte, und das wiederum machte mich traurig. Besser das als das zerbrochene Schwert.
»Aber wieso ist das von so großer Bedeutung?«, fragte ich Caterina. »Ganz allgemein, meine ich, nicht für Mademoiselle hier.«
»Aber, Valentin!« Caterina nahm Darioles Hand. »Wer weiß, was jetzt geschehen wird? Wenn etwas so Unwahrscheinliches Realität wird, muss alles andere neu berechnet werden … und falls er das in den vergangenen Jahren nicht schon getan hat, kann er es jetzt nicht mehr nachholen. Dazu fehlt ihm die Zeit!«
Sie deutete auf Dariole.
»Valentin, wer weiß, zu was sie sonst noch imstande ist? Sie könnte jetzt all seine Pläne über den Haufen werfen … wenn wir denn wüssten, wie wir handeln sollten.«
Schweigen erfüllte die Hütte. Auch nachdem mir klar geworden war, wohin diese Logik führte, machte ich ein säuerliches Gesicht. Dariole erregte meine Aufmerksamkeit. Als könnte sie nichts dagegen tun, spielte ein Lächeln um ihre Lippen.
»Wir sollten …« Ich überlegte mir eine möglichst harmlose Formulierung. »Wir sollten das Unwahrscheinlichste tun.«
Ich blickte Caterina in die Augen. Sie strahlte. »Aber ja! Und von wem hoffen wir, dass Roberto ihn trotz all seiner Berechnungen nicht erwartet? Wer kann dich zu unwahrscheinlichen Taten verleiten? Sie!«
»Das ist … absurd.« Ich funkelte sie an. »Wenn Ihr glaubt, ich würde die Ausführung dieses Plans in die Hände einer Siebzehnjährigen in Hosen legen …«
»Sechzehn«, stotterte Dariole.
»Sechzehn?« Ich bot mich selbst als Zielscheibe für ihren Witz an in der Hoffnung, dass auf diese Weise ihr Lachen nicht wieder dem Schmerz weichen würde. Dann erkannte ich die kalte Wahrheit, und ich konnte nicht anders, als zu sagen: »Sechzehn … Ihr seid jetzt sechzehn? Und als ich Euch bei Zaton das erste Mal getroffen habe … Mademoiselle, ich bitte Euch: Sagt mir, dass Ihr da nicht erst fünfzehn wart. Bitte!«
Das Lächeln, mit dem sie zu mir aufblickte, war kein Grinsen, sondern das Lächeln einer Frau. »O ja, Messire. Fünfzehn. Gerade erst.«
» Gütiger Gott im Himmel …!«
Dariole beugte sich vor, schnappte nach Luft und glitt von der Bank zu Boden. Dort saß sie, die Arme um die Rippen geschlungen, und grölte vor Lachen.
»Seht Ihr?«, wandte ich mich flehentlich an Suor Caterina. »Das ist absurd!«
»Ja, Valentin!« Caterina packte mich am Arm. Die Finger der Nonne versuchten, sich durch mein Wams in den Unterarm zu graben, schafften es aber nicht. »Dummer Mann! Verstehst du denn nicht? Wenn du vor einer Entscheidung stehst, lass sie entscheiden. Was würde der Londoner Meister weniger erwarten als das? Ansonsten lieferst du dich einem Mann aus, der jede deiner Entscheidungen schon zehn Jahren, bevor du überhaupt vor ihnen stehst, berechnet hat!«
Langsam und atemlos richtete Dariole sich wieder auf. Ich stellte mich ihrem Blick und fragte mich, was hinter diesen strahlenden Augen vor sich ging.
In reinstem Gossenfranzösisch bemerkte sie: »Wenn ich Euch für mich scheißen lassen kann, kann ich Euch auch dazu bringen, mir die Entscheidungen zu überlassen.«
Die plötzliche Kälte, die sich in meinem Bauch ausbreitete,
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