1622 - Sie kamen aus der Totenwelt
drehte.
Es war ihr Glück, dass sie saß. Mit beiden Händen umklammerte sie die Tischkante, weil sie noch mehr Halt haben wollte.
Wie lange sie so gesessen hatte, wusste sie nicht, aber das Zimmer drehte sich noch immer, wenn auch nicht mehr so schnell.
Das Flattern der Flügel riss sie aus ihren Gedanken. Dann streifte wieder .ein Luftzug ihr Gesicht, und als Paula aufblickte, sah sie den Vogel auf der Fensterbank sitzen und zu ihr hinschauen. Er machte ihr jetzt keine Angst mehr. Sie sah ihn als Boten und zugleich als Freund an. Beinahe schon vertraut, und so sah sie auch das Nicken an, mit dem der Vogel sie bedachte.
Dann hüpfte er auf der Stelle herum, breitete die Flügel aus und flog davon.
Da konnte Paula Norton nicht mehr. In ihrem Kopf war ein solches Durcheinander, dass sie zunächst keine Ordnung in dieses Chaos bringen konnte. Das war alles so verrückt. Ihre Welt war regelrecht auf den Kopf gestellt worden.
Und sie saß in ihrer Küche wie jemand, der die Welt nicht mehr begriff.
Sie war mit etwas konfrontiert worden, an das sie bisher nicht geglaubt hatte.
Mit dem Besuch des Raben war alles anders geworden. Sie wusste nicht, ob sie ihr Leben so normal wie bisher weiterführen konnte.
Warum diese Botschaft? Wer hatte sie geschrieben? Ja, es war Michaels Schrift. Aber Michael war tot, und sie hatte noch nie gehört, dass Tote Mitteilungen schrieben.
Das gab es nicht. Das war nicht möglich. Also musste jemand seine Handschrift genau kopiert haben, und auch das hatte die Person nicht grundlos getan.
Was sollte damit erreicht werden?
Paula hatte keine Ahnung. Sie war völlig durcheinander. Zu viel war auf sie eingestürmt, besonders Dinge, die für sie nicht im Bereich des Begreifbaren lagen.
Was steckte dahinter? Wer wollte etwas von ihr?
Michael war tot. Man hatte ihn bei einem Einsatz erschossen, und Paula erinnerte sich noch daran, wie sie weinend neben seiner Leiche gestanden hatte und von einem Mann namens Harry Stahl gehalten worden war, sonst wäre sie zusammengebrochen.
Harry Stahl!
Sie hatte damals sofort Vertrauen zu ihm gefasst, und er hatte ihr auch Hilfe angeboten, wenn es nötig war.
Jetzt brauchte sie Hilfe, denn sie fühlte sich völlig überfordert. Aber wenn sie Herrn Stahl anrief - seine Nummer hatte sie aufgehoben - was sollte sie ihm sagen?
Die Wahrheit natürlich!
Jetzt musste sie lachen. Was war das für eine Wahrheit? Sie ging davon aus, dass dieser Mann sie tatsächlich auslachen würde. Das hätte sie umgekehrt ja auch getan, denn so etwas konnte einfach nicht den Tatsachen entsprechen.
Allerdings war Harry Stahl ihre einzige Chance.
Er hatte ihr seine private Nummer in Wiesbaden gegeben. Sie wohnte ja nicht so weit weg. Der Rheingau lag praktisch vor der Haustür.
Die Telefonnummer hatte sie sich nicht gemerkt. Irgendwo hatte sie sie hingelegt, und sie lief in ihr Schlafzimmer, wo sie in einem Schrankfach ihre privaten Unterlagen aufbewahrte.
Paula musste schon suchen, bis sie unter all den Visitenkarten, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten, auch den Zettel mit der privaten Telefonnummer Harry Stahls fand.
Sie schloss die Augen und setzte sich auf den Bettrand. Sollte sie ihn wirklich anrufen? Er würde sie auslachen und ihr vielleicht erklären, dass sie einen Arzt aufsuchen sollte.
Auf der anderen Seite hatte sie ihn als einen Menschen erlebt, der sehr ernst war und seine Mitmenschen auch ernst nahm. Er würde sie bestimmt nicht auslachen.
Sie stand wieder auf und ging mit der Telefonnummer zurück in die Küche.
Eigentlich war es nicht die richtige Zeit, um einen berufstätigen Menschen anzurufen. Aber wenn er nicht zu Hause war, konnte sie vielleicht einige Sätze auf den Anrufbeantworter sprechen und ihm eine Nachricht hinterlassen. Vielleicht erinnerte er sich noch an sie und rief zurück.
Sie holte das Telefon von der Station, schaute es an und tippte mit zitternden Fingern die Zahlenreihe ein. Dabei hatte sie das Gefühl, die Weichen für eine ungewisse Zukunft zu stellen…
***
Auch wir erlebten immer wieder Neues. Es wiederholte sich zwar vieles im Leben, aber hin und wieder wird man auch überrascht. In unserem Fall waren es zumeist negative Überraschungen, und das war auch bei diesem Fall nicht anders.
Wir waren zu einem stillgelegten Bauernhof gerufen worden, denn dort würden wir einen Mann vorfinden, der uns interessierte. Er hatte von Totenreichen gesprochen, die mit der normalen Welt in Verbindung stehen
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